lehrernrw 5/2021
falls eine depressive Symptomatik, bei sechzehn Prozent sogar regelmäßige suizidale Gedanken fest- gestellt. v Vor dem Hintergrund der psychologischen Ent- wicklung von Kindern und Jugendlichen muss die Lage unserer Schüler leider auch so beschrieben werden: Der natürliche Initiations-Prozess, d.h. die Entwicklung von der Kindheit ins Jugendalter und von der Adoleszenz ins Erwachsensein etwa wäh- rend der gymnasialen Schulzeit, hat bei vielen Schülern doch eine merkliche Schlagseite oder zu- mindest eine deutliche Verzögerung erfahren. Denn der regelmäßige Kontakt mit Gleichgesinnten au- ßerhalb des Elternhauses ist entscheidend für diese beiden Entwicklungsprozesse, die eine schrittweise Ablösung von den Eltern und zugleich den organi- schen Aufbau eines eigenen Bekannten- und Freun- deskreises bedeuten. Und diese natürlichen Kontak- te haben nun seit eineinhalb Jahren fast ganz ge- fehlt. Auf keinen Fall darf es daher im neuen Schuljahr nochmals Wechselunterricht oder gar Homeschoo- ling geben. Entlüftungsgeräte in jedem Klassenzim- mer, weiterhin die Einhaltung der Hygienevorschrif- ten, regelmäßige Tests, sowie die Forcierung von Impfungen auch für Zwölf- bis Achtzehnjährige soll- ten daher jetzt oberste Priorität haben, nachdem die ’Stiko’ vor kurzem dafür endlich grünes Licht gege- ben hat. Für die Impfung ihrer Kinder sollten auch möglichst viele Eltern überzeugt werden – als klei- neres Übel, um eben einen neuen Lockdown oder einen Wechselunterricht zu vermeiden. Zu den angesprochenen Fördermitteln des Bun- des: Ich kann mich den Forderungen von Sven Christoffer, dem Vorsitzenden von ’ lehrer nrw’ nur anschließen, der die konsequente Umsetzung und sinnvolle Einsetzung der in Aussicht gestellten Bun- desmittel aus dem ’Aktionsprogramm Aufholen nach Corona’ fordert, das folgende Schwerpunkte enthält: Neben dem Abbau von Lernrückständen sollen etwa durch Freiwilligen-Dienstleistende und zusätzliche Sozialarbeit auch außerschulische Ju- gendarbeit und Angebote der Kinder- und Jugend- hilfe gefördert werden. Dabei sollte aber die Schule der erste und eigent- liche Ort sein, um die kognitive, emotionale und so- ziale Entwicklung der Schüler bestmöglich zu för- dern – im Unterricht und in außerunterrichtlichen Nicht noch einmal Wechsel- oder Distanzunterricht
Angeboten der Schulen. Die Verankerung der Aus- gaben im System der Schule kann Schnellschüsse und eine nur vordergründige, letztlich aber ineffek- tive Verpuffung dieser Mittel verhindern, sowie ei- nen notwendigen Beitrag zu einer möglichst nach- haltigen Aufarbeitung der Pandemiefolgen leisten. vi
Die Königsaufgaben der Lehrkraft sind jetzt gefragt
Im neuen Schuljahr ist hoffentlich der normale Prä- senzunterricht in voller Klassenstärke wieder die Re- gel. Wie nach einem heftigen und lang andauern- den Sturm können dann die Schäden besichtigt und anschließend beseitigt werden, die die Corona- Pandemie bei den Schülern angerichtet hat – be- züglich ihres Wissensstandes und psychisch. Das Ausmaß der Defizite ist jedoch zunächst nur schwer abschätzbar. Es wird sicher eine Herkulesaufgabe sein, in den einzelnen Schulen spezielle Kurse zum Aufholen der Lernrückstände einzurichten und den davon am meisten betroffenen Kindern zu empfehlen, daran auch teilzunehmen. Denn diese Kurse müssen dann von diesen ja zusätzlich zum normalen Unterricht belegt werden. Dies verlangt viel Geduld und Ein- fühlungsvermögen bei uns Lehrern, die Schüler auf diesem »Weg des Lernens« zu begleiten. Mindestens ebenso wichtig finde ich es jedoch, unsere Schülerinnen und Schüler aus Versagens- ängsten, Depressionen, Vereinsamung und Isolation herauszuholen, in denen sich nicht wenige von ih- nen während der Lockdowns befanden und zum Teil auch jetzt noch befinden. Ihre Situation im Un- terricht jetzt bewusst zu thematisieren, ist ein Weg dazu. Die Fächer Deutsch, Sozialkunde, Ethik und Religion erscheinen mir für diese psycho-soziale Aufgabe geradezu prädestiniert. Darüber hinaus sind wir Lehrkräfte aber alle herausgefordert, unseren Schülern jetzt beizustehen, gerade weil ein Ende der Corona-Krise immer noch nicht wirklich in Sicht ist. Dazu müssen wir uns je- doch unserer eigentlichen ’Königsaufgabe’ als Lehrer bewusst werden, uns an unser Ethos als Pä- dagogen erinnern und die ’Wolke’ des Corona- Hypes endlich beiseiteschieben, in der wir uns seit eineinhalb Jahren befunden haben – angetrieben von immer neuen und kurzfristigen Vorgaben von Bildungspolitik, Kultusministerien und Schulleitun- gen; und dauer-gestresst von der digitalen Transfor- mation des Unterrichts, die viele von uns Lehrkräf- ten schlichtweg überfordert hat.
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