lehrernrw 5/2021
zu müssen, wer man ist und wer man sein will. Den Ort erst noch finden zu dürfen, an den man gehört. Nur was, wenn die Suche schon wieder vorbei ist, noch bevor man auch nur eine Chance hatte, irgendwo anzukom- men? Die Pandemie hat alles ins Gegenteil verkehrt, was Erwachsenwerden ausmacht: Statt sich näher zu kommen, mussten wir Abstand halten. Grenzen respek- tieren, statt sie zu überschreiten, zu Hause bleiben, statt raus in die Welt zu laufen…« ii Um diese allgemeinen Aussagen noch plausibler zu machen, möchte ich kurz von einer Erfahrung mit einer neunten Klasse erzählen, die ich in Religion am Gymna- sium unterrichtete – ein knappes Jahr vor Beginn der Pandemie. Es war Wandertag Anfang Juni. Zu Fuß wa- ren wir zum nahe gelegenen See marschiert. Dort gab es am Ufer auf einem Hügel einen Feuerplatz. Am Morgen hatte ich mit dem Auto einen Kofferraum voll Holz hin- gebracht. Nach dem Anbrennen des Feuers packten al- le Schüler ihr mitgebrachtes Grillgut aus, spießten es auf kleine Äste und hielten ihre Würste ins Feuer. Auch ein Brotteig wurde über der Glut gebacken. Kartoffel wurden in Alufolie gewickelt und ebenfalls in die Glut gelegt. Die ganze Klasse fühlte sich wohl und saß während des Essens um das Feuer herum. Danach gab es am nahegelegenen Bolzplatz ein Fuß- ballspiel, bei dem es die Jungs wissen wollten, wer die coolere, stärkere, witzigere Mannschaft ist. Die Mädchen feuerten sie begeistert an. Später wurde am Feuer in klei- nen Gruppen geratscht, gechillt und viel gelacht, bevor es nach Löschen der Flammen wieder zurück ans Gym- nasium ging. Dieser Ausflug an den See blieb vielen Schülern in sehr guter Erinnerung, die Klassengemein- schaft wurde dadurch gestärkt, es konnte endlich ein- mal gemeinsam verweilt werden – ohne den üblichen Leistungsdruck an der Schule. Leider fanden solche Veranstaltungen jetzt zwei Sommer lang nicht mehr statt. Und es gab in dieser Zeit auch so viele private Treffen in der Freizeit der Schüler nicht, von einem normalen Unterricht ganz zu schweigen. Viel- leicht kann man die Lernrückstände aus den vergange- nen Monaten wieder etwas ausgleichen. Denn nach Ein- schätzung von Lehrerverbänden haben 20 bis 25 Pro- zent der Schüler Corona-bedingt nun größere Lücken im Lernstoff. Zur Förderung von Kindern und Jugendlichen wurde von der Bundesregierung deshalb im Mai ein zwei Milliarden Euro starkes ’Aktionsprogramm Aufholen nach Corona’ verabschiedet, um Lernrückstände auszu- gleichen und die psychosoziale Belastung von Kindern »Wir brauchen ein Aufholprogramm fürs Leben«
und Familien aufzufangen: »Mit dieser Unterstützung sollen Kinder und Jugendliche nach der Pandemie die bestmöglichen Chancen auf gute Bildung und persönli- che Entwicklung erhalten.« iii Aber kann man auch Blockaden in der psychischen Entwicklung so einfach aufholen wie Lernrückstände? Wenn man vor diesem Hintergrund die Persönlichkeits- entwicklung unserer Jugend insgesamt betrachtet, die durch die Corona-Pandemie in so vielen Fällen massiv gelitten hat, klingen für mich die Aussagen der Autorin in obigem Zeitungsbericht gar nicht mehr so provozie- rend, sondern irgendwie auch verständlich und berech- tigt, weil sie den tiefen Schmerz von Jugendlichen aus- drücken: »Wir brauchen kein Aufholprogramm fürs Lernen. Wir brauchen ein Aufholprogramm fürs Leben. Ein Aufhol- programm für ein Jahr verpasste Chancen und ein Jahr verpasste Freundschaften… Wir brauchen ein Kontingent an Tagen, an denen wir schwänzen dürfen, an den Schulen, an den Unis, in den Firmen, weil wir, statt zu ler- nen oder zu arbeiten, jetzt erst mal ins Schwimmbad ge- hen müssen. An den See fahren, alle zusammen, in die Berge wandern, oder einfach nur einen Sommer lang auf der Picknickdecke liegen, ganz nah beieinander… Wenn wir ein Aufholprogramm brauchen, dann wirklich nur eines: im Unbeschwertsein.« iv Ich hoffe, dass viele Jugendliche in den Sommerferien mittlerweile ein wenig von dem erleben und ein Stück weit nachholen konnten, was die junge Autorin Ende Mai gefordert hatte. Eine solche Prognose ist nach eineinhalb Jahren Coro- na-Einschränkungen an den Schulen noch zu früh. Aber die Situation von jungen Menschen verdient endlich gesellschaftliche Beachtung und Anerkennung. Bevor man sie vorschnell als eine »verlorene Generation« ab- stempelt, sollte man abwarten und beobachten, welche Resilienzfähigkeit in unseren Jugendlichen steckt. Unbeachtet dessen sollten in diesem Zusammenhang aber Studien wie die des Universitätsklinikums Ham- burg-Eppendorf Beachtung finden, in der im Zeitraum Dezember 2020 bis Januar 2021 über tausend Kinder und Jugendliche befragt wurden. Das erschütternde Er- gebnis: Bei fast jedem dritten Jugendlichen sind Corona- bedingte psychologische Auffälligkeiten zu beobachten: depressive Symptome, psychosomatische Folgen wie Magen- oder Kopfschmerzen. In einer österreichischen Studie im Frühjahr 2021 mit 3000 befragten Jugendli- chen wurden bei mehr als der Hälfte von ihnen eben- Bekommen wir eine »verlorene Generation Corona«?
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5/2021 · lehrer nrw
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