lehrernrw 5/2021
Zeitschrift des Verbandes lehrernrw
1781 | Ausgabe 5/2021 | SEPTEMBER | 65. Jahrgang
Nach der Pandemie die Flut
Pädagogik & Hochschul Verlag . Graf-Adolf-Straße 84 . 40210 Düsseldorf · Foto: AdobeStock
15 Dossier Generation Corona
28 Recht§ausleger »Ihre Note passt mir nicht«
3 Unter der Lupe Ein Wettbewerb um die besten Ideen
6 Im Brennpunkt Der schulscharfe Sozialindex
IMPRESSUM lehrer nrw – G 1781 – erscheint sieben Mal jährlich als Zeitschrift des ‘lehrer nrw’ ISSN 2568-7751 Der Bezugspreis ist für Mitglieder des ‘lehrer nrw’ im Mitgliedsbeitrag enthal- ten. Preis für Nichtmitglieder
INHALT
UNTER DER LUPE Sven Christoffer: Ein Wettbewerb um die besten Ideen
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BRENNPUNKT Sarah Wanders: Der schulscharfe Sozialindex
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im Jahresabonnement: € 35,– inklusive Porto Herausgeber und Geschäftsstelle lehrer nrw e.V. Nordrhein-Westfalen, Graf-Adolf - Straße 84, 40210 Düsseldorf, Tel.: 02 11 / 1 64 09 71, Fax: 02 11 / 1 64 09 72, Web: www.lehrernrw.de Redaktion Sven Christoffer, Ulrich Gräler, Christopher Lange,
SERIE HAUPTSCHULEN Interview: Die vergessene Schulform Auferstanden: Die Martin-Luther-King-Hauptschule
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BATTEL HILFT Ein Konzept muss her!
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TITEL Schulen im Ausnahmezustand Die Schulfamilie trägt uns
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Marcel Werner: Wie nach einem Krieg
DOSSIER Peter Maier: Generation Corona Was Schülerinnen und Schüler jetzt dringend brauchen SCHULE & POLITIK Mülheimer Kongress: ‘Optimistisch in die Zukunft’ Ulrich Gräler: Bildung ist … mehr wert 5% Lehrerräteschulungen 2021 KOLUMNE Wir sind doch keine Juristen Staffelstab übergeben … …Monika Holder hat den Staffelstab übernommen RECHT § AUSLEGER Christopher Lange: »Ihre Note passt mir nicht« ANGESPITZT Jochen Smets: Da wackelt der Aluhut SENIOREN Konrad Dahlmann hat
Jochen Smets, Sarah Wanders, Marcel Werner Düsseldorf Verlag und Anzeigenverwaltung PÄDAGOGIK & HOCHSCHUL VERLAG – dphv-verlags- gesellschaft mbH, Graf-Adolf-Straße 84, 40210 Düsseldorf, Tel.: 02 11 / 3 55 81 04, Fax: 02 11 / 3 55 80 95 Zur Zeit gültig: Anzeigenpreisliste Nr. 21 vom 1. Oktober 2020 Zuschriften und Manuskripte nur an lehrer nrw ,
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Zeitschriftenredaktion, Graf-Adolf-Straße 84, 40210 Düsseldorf
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Für unverlangt eingesandte Manuskripte kann keine Ge- währ übernommen werden. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung ihrer Verfasser wieder.
HIRNJOGGING Aufgabe 1: Ein Mann mit vielen Gesichtern Aufgabe 2: Oberbegriffe
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UNTER DER LUPE
Ein Wettbewerb um die besten Ideen Pandemie, Flut, Klima, Afghanistan – der Umgang der Par- teien mit Krisen und Katastrophen dominiert den aktuellen Bundestagswahlkampf. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass das Thema Bildung eine untergeordnete Rolle spielt. Bedauerlich ist es nichtsdestotrotz.
CDU/CSU:
von SVEN CHRISTOFFER
Gleichwertigkeit der Bildungssysteme garantieren
D ie Schulen in Deutschland befinden sich im bereits dritten Schuljahr in Folge, das maßgeb- lich von der Corona-Pandemie beeinflusst wird. In Nordrhein-Westfalen und in Rheinland-Pfalz gibt es darüber hinaus nicht wenige Schulen, die in der Flutka- tastrophe massiv Schaden genommen haben. Deshalb ist es nur allzu verständlich, dass diese Themen aktuell im Mittelpunkt stehen. Das Schuljahr 2021/22 ist aber auch ein Schuljahr, in dem bildungspolitisch wichtige Weichen gestellt werden: in diesem Monat durch eine Bundestagswahl und Mitte Mai durch die Wahl des nordrhein-westfälischen Landtags. Politik ist ein Wettbe- werb um die besten Ideen. Auf der Suche nach solchen habe ich deshalb mit großer Neugier unter bildungspo- litischen Aspekten die Bundestagswahlprogramme unterschiedlicher Parteien unter die Lupe genommen. Die Bilanz fällt zwie- spältig aus.
Der CDU/CSU ist die Sozialdemokratisierung in der Mer- kel-Ära deutlich anzumerken. Unter der Überschrift ‘Auf- stieg durch Bildung’ streicht die Partei heraus, dass die Herkunft von Menschen nicht über ihre Zukunft ent-
scheiden dürfe. Da- mit jedes Kind seine Chancen nutzen könne, wollen CDU und CSU die Schulen
vor allem in sozial schwierigen Lagen weiter stärken. Das sind zweifelsohne hehre Absichten. Leider bleibt die Union bei der Umsetzung jedoch sehr vage und ver- weist lediglich auf die Bund-Länder-Initiative ‘Schule macht stark’, die beste Bildungschancen für sozial be- nachteiligte Schülerinnen und Schüler fördere und
(Wahl-)Kampf ums (Schul-)Kind: Alle Parteien ver- sprechen bessere, gerechtere und zukunftsorien- tiertere Bildung. Bleibt zu hoffen, dass dabei die Kinder nicht aus dem Blick geraten.
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Foto: AdobeStock/detailblick-foto
UNTER DER LUPE
Die Grünen:
deshalb gestärkt und weiterentwickelt werden solle. Sehr gefreut habe ich mich darüber, dass CDU und CSU die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung als Herzensanliegen bezeichnen. Daher werde die Union wieder mehr Gewicht auf die Ausbildung junger Menschen als Facharbeiter und Handwerker le- gen, um dem Fachkräftemangel in diesen Bereichen wirksam zu begegnen. Eine Karriere in der beruflichen Bildung müsse als gleichwertige Alternative zum Studi- um für jeden und jede erkennbar sein. Aus meiner Sicht würde mit einem solchen bildungspolitischen Ansatz eine Fehlentwicklung der vergangenen Jahrzehnte kor- rigiert, er hätte deshalb die volle Unterstützung von lehrer nrw. SPD: Ein gutes Ganztagsangebot für gleiche Chancen Auch die SPD will selbstverständlich dafür sorgen, »dass alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von ihrer Herkunft die gleichen Chancen haben, das Best- der Bildung (ein Bundesprogramm für Schulsozialar- beit) wollen die Sozialdemokraten den Kommunen Mit- tel zur Förderung von ‘Chancenhelfern’ an jeder Schule bereitstellen. Daneben sei ein gutes Ganztagsangebot entscheidend für gleiche Chancen. Schule erreiche her- kunftsunabhängig jedes Kind. Deshalb sei der Rechts- anspruch auf ein ganztägiges Bildungs- und Betreu- ungsangebot im Grundschulalter ein wichtiger Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit und zudem für viele Eltern der notwendige nächste Schritt in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Qualitativ guter Ganztag ist jedoch personalinten- siv. Ist dieser Weg in Zeiten deutschlandweiten Lehr- kräftemangels tatsächlich in absehbarer Zeit gang- bar? Ich möchte meine Skepsis mit den Worten des Berliner Schulleiters Michael Rudolph zum Ausdruck bringen: »Wir haben ja noch nicht einmal genügend Lehrer, Pädagogen, Erzieher, um die Kernunterrichts- zeit der Schulen zu besetzen. (…) Es wirkt, als durch- leide man eine Dürre und wolle trotzdem einen riesi- gen Wasserfreizeitpark ausbauen.« Herr Rudolph wird übrigens auf unserem nächsten Mülheimer Kongress referieren. mögliche aus ihrem Leben zu ma- chen«. Dabei setzt sie auf Schulso- zialarbeit und ein Ganztagsange- bot für Schulkinder. Über die Bun- desinitiative Chancengleichheit in
Sozial diverse und inklusive Schulen des längeren gemeinsamen Lernens
Die Grünen fordern »sozial diverse und inklusive Schu- len, in denen junge Menschen so lange wie möglich ge- meinsam lernen«. Gleiche Lebenschancen für alle Kinder heiße für die Grünen, dass sie sich für gemeinsames Ler- nen und individuelle Förderung für alle Kinder von der
Kita bis zum Schulabschluss einsetzen. Ihr Ziel sei, einen individuellen Rechts- anspruch für jedes Grundschulkind auf Ganztagsbildung und -betreuung mit Qualitätsstandards umzusetzen. Dazu solle die Schulsozialarbeit ausgebaut
Schließlich wollen die Grünen »Bildung auf die Höhe der Zeit bringen«. Dazu gehören »Schüler*innen, die sich spielerisch, zum Beispiel durch Game-based Lear- ning, kooperativ neue Inhalte erschließen«. Das kann man so sehen, muss man aber nicht. FDP: Mehr Investitionen und mehr Autonomie Sprachlich ist die FDP mehr im Englisch- als im Deutsch- unterricht zuhause: Da ist vom ‘German Dream’-Zu- schuss, von ‘MakerSpaces’, ‘Aufstiegsscouts’ und ‘Lear- ning Analytics’ die Rede. Das kann man so machen, und flächendeckend als Bestandteil des Ganztags veran- kert werden. Hier gibt es also eine Deckungsgleichheit mit der SPD. Deckungsgleich ist aber auch, dass die Fra- ge unbeantwortet bleibt, woher das Personal kommen soll, das dieses ehrgeizige Programm umsetzen soll. Ebenso wie die Union wollen die Grünen die Ausbil- dung stärken: »Trotz enormen Fachkräftemangels sinkt die Zahl der jungen Menschen, die eine Berufsausbil- dung beginnen. Gleichzeitig landen immer mehr in den Warteschleifen des Übergangssystems. Die duale Ausbil- dung muss auf sichere Beine gestellt werden.« Mit einer Ausbildungsgarantie wollen sie allen jungen Menschen den Beginn einer anerkannten Ausbildung ermöglichen »und das Recht auf Ausbildung absichern«.
muss man aber nicht. Inhaltlich sind die Frei- en Demokraten jedoch erfreulich konkret und an vielen Stellen sehr klar. Zudem trägt das
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UNTER DER LUPE
bildungspolitische Bundesprogramm eine deutliche nordrhein-westfälische Handschrift – so beim deutsch- landweiten Ausbau der Talentschulen und bei der bun- desweiten Einführung der Schulfächer Wirtschaft und Informatik. Die FDP fordert, einen Prozentpunkt des bestehenden Mehrwertsteueraufkommens zusätzlich in Bildung zu in- vestieren: »Dazu sollen sich Bund und Länder unter Ein- beziehung der Kommunen in einem Staatsvertrag ver- pflichten.« Das ermögliche zusätzliche Investitionen von rund 2,5 Milliarden Euro in den Bildungssektor. Aus mei- ner Sicht wäre das kein Cent zu viel. Zudem wollen die Freien Demokraten die Autonomie der Schulen stärken und ihnen mehr pädagogische, personelle und finanziel- le Freiheiten geben. Jede Schule solle ein eigenes Bud- get erhalten, über dessen Verwendung sie autonom ent- scheidet. Gut so, denn wer wüsste besser, was die Schu- le vor Ort voranbringt als der Experte vor Ort? Als einzige der vier besprochenen Parteien legt die FDP ein klares Bekenntnis zur Förderschule ab: »Die Wahlfreiheit zwischen Regelunterricht und speziellen Klassen beziehungsweise Schulen soll bei Eltern und ih- ren Kindern liegen. Wir setzen uns daher für den Erhalt
dieser ein.« Ich persönlich teile die Auffassung, dass Menschen mit Behinderung und Lernschwäche auch zu- künftig eine Wahl zwischen Regel- und Förderschule ha- ben sollten. Und dazu müssen unsere leistungsstarken Förderschulen – um die wir mancherorts beneidet wer- den – am Netz bleiben. Schließlich werben die Freien De- mokraten für die Weiterentwicklung der Lehrerausbil- dung zu einem dualen Lehramtsstudium, das Theorie- und Praxisphasen von Beginn an eng miteinander ver- zahnt. Eine Intensivierung der Praxisphasen in der ersten Phase der Ausbildung würde zumindest die Wahrschein- lichkeit erhöhen, dass den Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern in der zweiten Phase der Ausbildung erspart bliebe, was die Psychologie den ‘Praxisschock’ nennt. WW ie immer muss abgewartet werden, was von den Vorhaben aus den Wahlprogrammen tatsächlich umgesetzt wird und was unter den Tischen der Koaliti- onsverhandlungen im Nirwana verschwindet. Nichtsdes- totrotz: Das Gute an der Demokratie ist – man hat im- mer eine Wahl.
Sven Christoffer ist Vorsitzender des lehrer nrw sowie Vorsitzender des HPR Realschulen E-Mail: christoffer@lehrernrw.de
BRENNPUNKT
Der schulscharfe Sozialindex
Ruhr-Universität Bochum ein Modell, mit dessen Hilfe die soziale Zusammensetzung jeder einzelnen Schule individuell gemessen und auf dessen Grundlage jeder Schule eine Sozialindexstufe zugewiesen werden konn- te. Ausgenommen von diesen Berechnungen sind Privatschulen, Förderschulen und Schu- len für berufliche Bildung. Die Berechnung des neuen Schulsozialindexes Der Schulsozialindex wird mithilfe von vier Indikatoren, die in einem statistischen Ver- fahren (konfirmatorische Faktoranalyse) un- terschiedlich gewichtet werden, berechnet. Es gibt neun Sozialindexstufen, wobei Stu- fe 1 einer geringen Belastung und Stufe 9 einer sehr hohen Belastung entspricht.
Durch die Einführung eines schulscharfen Sozialindexes plant die Landesregierung in Zukunft, Ressourcen zielgenauer auf die einzelnen Schulen verteilen und somit Schulen in beson- ders herausfordernden Lagen besser unterstützen zu können. D er bestehende Kreissozialindex konn- te als Instrument für die Ressourcen- steuerung nicht funktionieren, da die Voraussetzungen in einzelnen Schulen des- selben Kreises bzw. derselben kreisfreien Stadt alles andere als homogen waren. Somit divergierten auch die tatsächlichen Unterstützungsbedarfe enorm. Das Landesinstitut QUALiS entwickelte im Auftrag des Ministeriums für Schule und Bildung NRW (MSB) in Kooperation mit der von SARAH WANDERS
Anzahl der Schulen einzelner Schulformen in den jeweiligen Sozialindexstufen
Schulform Primarstufe Grundschule
Sozialindexstufe
1
2
3
4
5
6
7
8
9 4 – 4 – – – – –
ohne Summe
644
823 529
300 175
145
70
14
8
2712
PRIMUS
–
3
–
2
–
–
–
–
–
5
Sekundarstufe Hauptschule
1
7
25
40 53 11 39 10
35 25
32
27
7
1 1 5
179 332 107 318 504
Realschule
48
95 104
3 2 7 1
3
– – – – –
Sekundarschule Gesamtschule
4
44
36 91 45
5 9 1
–
Quelle: www.schulministerium.nrw/sozialindex
30
129 186
2 1
11
Gymnasium
260
– –
Gemeinschaftsschule
–
1
–
–
–
–
–
1
Alle Schulen Gesamtergebnis
987 1288 830 4158 Hinweis: Der schulscharfe Sozialindex wurde auf Basis der Amtlichen Schuldaten 2018/2019 berechnet. In der Tabelle sind insgesamt 26 Schulen ohne Sozialindexstufe ausgewiesen. Diese wurden nach dem 31. Juli 2017 neu gegründet und konnten daher bislang noch keiner Sozialindexstufe zugeordnet werden. 455 250 190 103 21 8 26
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BRENNPUNKT
Foto: AdobeStock/hobbitfoot
Komplexes Konstrukt mit Fehlerpotenzial: Aus der heterogenen Gruppe der Schülerschaft wird an- hand sozialer, familiärer und soziokultureller Rahmenbe- dingungen ein Sozialindex ge- bildet, der über die Verteilung von Ressourcen entscheidet.
rung. Laut Auskunft durch das MSB wird es zu Umverteilungen innerhalb einzelner Schulfor- men, aber auch zu einer Umverteilung zwi- schen den Schulformen kommen. Keiner gibt angesichts des überall herrschenden Lehrkräf- temangels gerne etwas ab.Wir alle wissen je- doch auch, dass eine bloße Stellenzuweisung noch keine Kolleginnen und Kollegen an der einzelnen Schule generiert. Der Markt ist nach wie vor leergefegt, zumindest in der Sekun- darstufe I und in der Grundschule. Stigmatisierung Der Hauptpersonalrat für Lehrerinnen und Lehrer an Realschulen hat sich gegenüber dem MSB ausdrücklich dagegen ausgespro- chen, die Sozialindexstufe jeder einzelnen Schule zu veröffentlichen. Zum einen sagt diese Stufe gar nichts darüber aus, wie gut die Arbeit ist, die eine Schule leistet, zum an- deren könnte eine Veröffentlichung zu einer Stigmatisierung einzelner Schulen führen. Somit würde man diese Schulen zwar durch mehr Personal unterstützen, ihnen auf der anderen Seite das Leben unnötig erschwe- ren. Leider hat sich das MSB trotz dieser Argumente dafür entschieden, die Daten zu veröffentlichen, da man sich einer Veröffent- lichung auf Anfrage ohnehin nicht verwei- gern könne. Bleibt nur zu hoffen, dass die befürchteten Konsequenzen ausbleiben.
■ Anteil der Schülerinnen und Schüler mit eigenem Zuzug aus dem Ausland ■ Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Förderschwerpunkten Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache Chancen und Probleme Betrachtet man den Hinweis unter der Tabelle, so wird deutlich, dass die Berechnungen nicht auf den neuesten Daten beruhen. Gerade die Anzahl der Gesamtschulen ohne Sozialindex- stufe ist aufgrund vieler Neugründungen in den vergangenen Jahren besonders hoch. Aus diesem Grund ist eine jährliche Aktualisierung der Berechnungen unerlässlich, damit die Verteilung der Ressourcen nicht nur genau berechnet, sondern auch gerecht ist. Die Anwendung des Schulsozialindexes sorgt allerdings nicht überall für Begeiste-
■ Kinder und Jugendarmut: Hier wird die Dichte der SGB II-Quote im Einzugsgebiet der Grundschulen gemessen. Dies liegt daran, dass es hierzu in der amtlichen Schulstatistik für die Sekundarstufe keine Daten gibt, die herangezogen werden können. ■ Anteil der Schülerinnen und Schüler mit vorwiegend nichtdeutscher Familiensprache: Das große Problem bei diesem Indikator be- steht darin, dass Eltern sich häufig scheuen an- bzw. zuzugeben, dass zuhause kein Deutsch gesprochen wird, um bei der Schule keinen schlechten Eindruck zu hinterlassen, auch wenn diese Befürchtungen vollkommen unbe- gründet sind. Gerade fehlende Sprachkenntnis- se beeinflussen häufig die schulischen Leistun- gen der Schülerinnen und Schüler mit Migrati- onshintergrund. Es steht also zu befürchten, dass die Datengrundlage nicht valide ist.
Sarah Wanders ist stellv. Vorsitzende des lehrer nrw E-Mail: wanders@lehrernrw.de
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SERIE HAUPTSCHULEN
Die vergessene Schulform
I n Nordrhein-Westfalen gibt es (immer noch) 175 Hauptschulen, rund 6300 Hauptschul-Lehrkräfte und über 52 000 Hauptschüler. Und doch bewegt sich die Hauptschule in der öffentlichen Wahrneh- mung und beim Image unter dem Radar. Aber gerade in Zeiten, da Schlagworte wie Fachkräftemangel, individuelle Förderung oder Inte- gration die (schul-)politische Diskussion prägen, kann die Haupt- schule ihre Stärken ausspielen. Höchste Zeit also, die vermeintlich vergessene Schulform wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein zu
rücken. lehrer nrw tut dies zum einen mit einer Serie, in der wir in loser Folge Hauptschulen vorstellen, die mit innova- tiven Konzepten und guter Arbeit erfolg- reich sind. Zum anderen leistet lehrer nrw mit dem Referat Hauptschulen Überzeugungsarbeit. Referatsleiterin Kerstin Thomsen, selbst Hauptschulleh- rerin mit Leidenschaft, stellt ihre Ziele im Kurzinterview vor. Warum Hauptschule? Weil hier das Kind als Mensch im Vor- dergrund steht und nicht als Produzent
Auf- erstanden! Wie wichtig Hauptschulen für das Schulsystem sein können, zeigt die Martin-Luther-King-Hauptschule (MLKS) in Velbert eindrucksvoll. Die Schule, die schon kurz vor der Schließung stand, ist wieder re- aktiviert worden und bietet mit Schwerpunkten auf Berufsorientierung und Montessori-Pädagogik gut 300 Schülerinnen und Schülern eine Heimat.
Foto: privat
Kerstin Thomsen, Leiterin des Referats
Hauptschulen im lehrer nrw
von Leistungen. Leistung ist wichtig, darf aber nicht der absolute Maßstab sein. Es geht zum Beispiel auch um soziale Fähigkeiten und Persönlichkeitsentwicklung. Die Hauptschule legt den Fokus auf Fä- higkeiten, die an anderen Schulformen gar keine oder nur eine unter- geordnete Rolle spielen, etwa handwerkliche oder kreative Fertigkei- ten. Und schließlich: Die Hauptschule ist ein überschaubares System, in der die Lehrkräfte alle Schüler kennen und umgekehrt. Diese fami- liären Strukturen tun den Kindern gut. Viele wären in großen Syste- men überfordert. Sie selbst waren zwischenzeitlich an einer anderen Schulform, sind aber zur Hauptschule zurückgekehrt. Warum? Mir gefällt die Mischung aus Pädagogik, Erziehung und Bildung, für die die Hauptschule steht. Mir gefällt der hohe Praxisbezug, den kei- ne andere Schulform bietet. Mir gefällt, dass die Hauptschule viele Anschlussmöglichkeiten bietet – sowohl in Richtung Ausbildung und Beruf wie auch in Richtung einer fortgesetzten Schullaufbahn mit Realschulabschluss. Kurz gesagt: Die Hauptschule ist meine Schul- form. Sind Sie optimistisch, was die Zukunft der Hauptschulen angeht? Jein. Politisch genießt die Hauptschule schon seit Jahren keine Priori- tät. Andererseits bin ich überzeugt: Eine Einheitsschule funktioniert nicht. Meinem Empfinden nach besinnen sich gerade viele Eltern zu- rück auf die Hauptschule. Ich bin gespannt.
FF ür eine Schule, die fast schon tot war, macht die Martin-Luther-King-Haupt- schule einen ziemlich lebendigen Ein- druck. Tatsächlich war die Schule schon aus- laufend gestellt. Die neue Schulleiterin Bar- bara Kreimer war gerade einen Monat im Amt, als Schulausschuss und Rat der Stadt Ende 2018 die Gründung einer neuen Ge- samtschule in einem anderen Velberter Stadtteil beschlossen – verbunden mit der Auflage, die Hauptschule zu schließen. Statt zu gestalten, sollte Barbara Kreimer ihre neue Schule abwickeln. Wiederaufnahme des Schulbetriebs Doch die Pläne der Kommunalpolitiker und der Bezirksregierung bestanden den Praxis- test nicht. Infolge des Aufnahmestopps an
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Fotos (2x): Smets
SERIE HAUPTSCHULEN
scher und buchstäblich ’be-greifbar’. Viele Kinder haben Talente und Fähigkeiten, die im üblichen Schulbetrieb oft nicht entdeckt werden. Das ist für die Schülerinnen und Schüler frustrierend. Bei uns haben sie Er- folgserlebnisse.« Auch das Kollegium zieht mit: Drei Kolleginnen absolvieren derzeit parallel zu ihrer Unterrichtsverpflichtung eine Montessori-Ausbildung. Schwerpunkt Berufsorientierung Eine Besonderheit der Martin-Luther-King- Hauptschule ist auch der ausgeprägte Schwerpunkt Berufsorientierung. Potenzial- analysen und trägergestützte Berufsfelder-
Wieder da: Die Martin-Luther-King- Hauptschule in Velbert hat Schüler und Eltern mit ihrem Konzept überzeugt.
kundungen in Klasse 8 so- wie Langzeitpraktika und Praxiskurse in den Klassen 9 und 10 gehören unter an- derem zum Konzept. Im schuleigenen Berufsorien- tierungsbüro können sich Schüler und Eltern infor- mieren und beraten lassen. Dafür sind die Koordinato- ren für Berufliche Orientie- rung, Christoph Lehmann, Frank Homberg und Mu- hammed Celik zuständig. Dieses Team unterstützt und begleitet angehende
triebs ab Klasse 5. Die Bezirksregierung sträubte sich zunächst, doch das Schulmi- nisterium gab schließlich grünes Licht. Montessori-Zweig mit großer Resonanz Das Ergebnis: Die Martin-Luther-King- Hauptschule ist buchstäblich wiederaufer- standen. Zum aktuellen Schuljahr begrüßte Barbara Kreimer mit ihrem Kollegium 50 Fünftklässler und 26 Siebtklässler, die nach der Orientierungsstufe von der Realschule an die Hauptschule gewechselt sind. Barba- der MLKS platzte die Velberter Realschule aus allen Nähten, und auch die Gesamt- schule Velbert-Mitte hatte nur begrenzte Kapazitäten. »Wir haben perspektivisch stark wachsende Schülerzahlen in Velbert. Viele Kinder haben erhöhten Förderbedarf, viele haben einen Migrationshintergrund. Einige Kinder aus zugewanderten Familien sind noch nicht alphabetisiert«, erklärt die Schulleiterin. Dieser Schülerklientel könnte ein überschaubares System wie eine Haupt- schule einen idealen Förderort bieten. Das sah auch die Stadt als Schulträgerin ein und stellte in Abstimmung mit der MLKS einen Antrag auf Wiederaufnahme des Schulbe-
Individuelle Förderung, hier im Computerraum, ist zugleich Prinzip und Stärke der Martin-Luther-King-Hauptschule.
ra Kreimer ist nicht mehr Abwicklerin, son- dern wieder Gestalterin. Die Schulleiterin, selbst seit über zwanzig Jahren Montessori- Pädagogin, rief einen Montessori-Zweig ins Leben. Von den beiden neuen fünften Klas- sen läuft eine als Regelklasse und die ande- re als Montessori-Klasse. Das kommt an: »Montessori ist für viele Eltern ein Argu- ment: Wir hatten mehr Interessenten für den Zweig, als wir aufnehmen konnten«, berich- tet Barbara Kreimer. Warum sich die Hauptschule für diesen reformpädagogischen Ansatz eignet? »Montessori setzt auf Handlungsorientie- rung«, erklärt die Pädagogin. »Wenn Schü- ler zum Beispiel kein ausgeprägtes Zahlen- verständnis haben, machen wir die Zusam- menhänge anhand von Materialien plasti-
Hauptschulabsolventinnen und -absolventen rund um den Wechsel ins Berufsleben – vom Bewerbungstraining über die Teilnahme an Azubi-Speed-Dating-Veranstaltungen der Wirtschaft bis hin zur Vorbereitung und Durchführung der ’Schüler online’ Anmel- dung am Berufskolleg. Als wichtiger Be- standteil gilt auch das Elterncafé, in dem sich Eltern über die duale Ausbildung infor- mieren können und Vorurteile abgebaut werden. Die Kinder jedenfalls fühlen sich wohl an ihrer Martin-Luther-King-Hauptschule. Bar- bara Kreimer und ihr Kollegium möchten ihren Schülerinnen und Schülern das Gefühl vermitteln: »Wir schauen, was Du kannst und bauen deine Fähigkeiten weiter aus.« Jochen Smets
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5/2021 · lehrer nrw
BATTEL HILFT
Ein Konzept muss her ! Der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Stefan Battel gibt in seiner Kolumne regelmäßig Antworten auf Fragen aus dem Lehreralltag. Diesmal geht es um die Frage, was wir der heranwachsenden Generation noch zumuten wollen. N eulich beunruhigte mich eine dpa- Meldung, in der mitgeteilt wurde, dass etwa 30 000 Schüler in Nord- gnitiven und emotionalen Entwicklung, als dass es einen Schaden im Sinne einer er- heblichen Hospitalisierung oder Todesfälle gibt.
halten. Hier geht es nicht um besser oder schlechter, um moralisch oder nicht mora- lisch oder um solidarisch oder nicht solida- risch, sondern es kann nur darum gehen, in einen wohlwollenden gemeinsamen Dis- kurs zu treten und den Zustand in Schulen wie auch in Kindergärten bei geringen Hospitalisierungsraten von knapp vierzehn Millionen unter Achtzehnjährigen in Deutschland wieder in ein ’Zurück zu Frü- her’ zu bringen. Sonst erwarte ich in naher Zukunft eine Entwicklungskrise in erhebli- chem Ausmaß bei vielen Kindern und Ju- gendlichen. Ach so, nebenbei bemerkt, ich bin in voller Blüte Optimist.
rhein-Westfalen in Quarantäne sind. Nach nunmehr eineinhalb Jahren im Rückblick aus Sicht einer kinder- und jugendpsychi- atrischen Praxis muss jetzt wirklich ein Konzept für Schulen, für Kinder und Ju- gendliche her. Im Laufe der letzten einein- halb Jahre haben wir in der Praxis wie auch sicherlich Sie in der Schule Kinder und Jugendliche erlebt, die in ihrer Ent- wicklung deutlich zurückgeworfen wur- den. Schulängstliche Kinder, die nach lan- ger Abstinenz wieder Fuß gefasst hatten mussten entweder in Quarantäne oder waren vom Lockdown betroffen. So subsumieren sich viele kleine Ge- schichten aus einem Großen und Ganzen. Was man üblicherweise im wirtschaftli- chen Denken als Lieferketten beschreibt, sehen wir hier in der Praxis als Unterbre- chung der Entwicklungsketten bei vielen Kindern und Jugendlichen. Auch Kindergar- tenkinder, die jetzt eingeschult wurden, weisen zum Teil erhebliche Entwicklungs- rückstände auf. All dies ist publiziert und gut untersucht. Doch was machen wir da- raus? Manchmal erwische ich mich bei dem Gedanken, was wäre eigentlich, wenn es in Schulen, zumindest in Grundschulen, keine Maskenpflicht mehr gäbe, keine Ab- standsregeln und dass alles so wäre wie früher? Wäre das unser Untergang? Wel- che Risiken sind wir bereit, in Kauf zu neh- men und die Maßnahmen verhältnismäßig abzuwägen? Schaut man in manche euro- päischen Nachbarländer, so scheint es dort einen größeren Nutzen für die zukünftige Generation zu geben bezüglich ihrer ko-
Ich glaube, wir nähern uns einem Kipp- punkt, an dem wir uns entscheiden müs- sen: Erstens, wie wir miteinander leben wollen. Und zweitens, was wir unserer zu- künftigen Generation noch zumuten wol- len. Diejenigen von uns Erwachsenen, die sich schützen möchten mit einer Impfung, können dies mittlerweile in einer Art So- fortzustand in Anspruch nehmen. Diejeni- gen, die noch ein wenig zurückhaltend sind, aus was für Gründen auch immer, können sich entsprechend vorsichtig ver-
ZUR PERSON
Dr. med. Stefan Battel ist seit 2007 niedergelassener Facharzt für Kinder- und Jugendpsychia- trie und -psychothe- rapie mit eigener Praxis in Hürth bei Köln und seit 2012 systemischer Famili- entherapeut (DGSF). Im Rahmen des lehrer nrw -Fortbil- dungsprogramms greift er in einer Vor- tragsreihe regelmä- ßig verschiedene Themen aus dem Bereich der Jugend- psychologie auf.
Foto: Andreas Endermann
Ausschließlich für Mitglieder von lehrer nrw bietet Dr. Stefan Battel einmal pro Woche eine Telefonsprechstunde an. Lehrkräfte, die Infor- mation, Rat und Hilfe im Umgang mit schwierigen Schülern oder Eltern brauchen oder selbst in einer psychisch belastenden beruflichen Situa- tion stecken, können dieses Angebot nutzen. Die Hotline ist jeden Dienstag von 15 Uhr bis 16 Uhr freigeschaltet und unter der Telefonnummer 02233 / 9610120 erreichbar.
lehrer nrw · 5/2021 10
TITEL
Schulen im Ausnahmezustand
Das Wasser ist zurückgewichen – was bleibt, ist totale Zerstörung: Blick auf Ahrweiler nach der Flut.
Als ob die Schulen nicht schon durch die Corona-Pande- mie geplagt genug gewesen wären: Mitte Juli sorgte eine beispiellose Flutkatastrophe im südlichen Nordrhein- Westfalen und im nördlichen Rheinland-Pfalz für unendli- ches Leid und kaum bezifferbare Schäden an der Infra- struktur – auch an Schulen.
Normalität zurück, doch es zeigte sich auch, wie viel Trauer und seelisches Leid die Katastrophe verursacht hat. Unzählige Menschen, darunter auch Mitglieder von lehrer nrw , haben vor Ort angepackt und bei den Aufräum- und In- standsetzungsarbeiten geholfen. Viele Menschen haben ihre Anteilnahme durch Geld- und Sachspenden gezeigt, um die größte Not in den betroffenen Gemeinden und Familien zu lindern. Auch lehrer nrw wird einen größeren Geldbetrag für die Opfer der Flutkatastrophe spenden.
A llein in Nordrhein-Westfalen meldeten 175 Schulen inklusive zwei Zentren für die schulpraktische Lehrerausbildung kleinere bis große Schäden. Wie das NRW- Schulministerium am 18. August zum Schuljahresbeginn meldete, konnten 98
Schulen am ersten Schultag uneinge- schränkt starten. Die restlichen 75 Schulen konnten ebenfalls den Unterrichtsbetrieb aufnehmen, jedoch mit Einschränkungen. Der Schulbeginn brachte für Schüler und Lehrkräfte in den Flutgebieten ein Stück
Foto: Marcel Werner
TITEL
Foto: Ralf Breuer
Um kurz vor Mitternacht blieb die Zeit stehen, wie die Uhr an der Wand zeigt: Blick in ein verwüstetes Klassen- zimmer der von Boeselager Realschule plus in Ahrweiler.
LICHTENTHÄLER: Eine unschätzbar wichti- ge. Viele haben in den ersten Stunden und Tagen eine unsagbare Trauer, Fassungslosig- keit und Machtlosigkeit empfunden. Aber al- le haben schnell die Ärmel hochgekrempelt und angepackt. Da ist ein tiefes Zusammen- gehörigkeitsgefühl entstanden – im Ort und ganz besonders auch in unserer Schule. Die Schulfamilie trägt uns. Die Katastrophe kam quasi mit Beginn der Sommerferien in Rheinland-Pfalz. Gut sechs Wochen später sind Sie ins neue Schuljahr gestartet. Wie haben Sie das geschafft? LICHTENTHÄLER: Uns war es extrem wich- tig, als Schulfamilie zusammenzubleiben und gemeinsam ins neue Schuljahr gehen zu können. Wir wollten nicht auf andere Schu- len und Gemeinden verteilt werden. Darum sind wir froh und dankbar, dass es uns zu- sammen mit dem Schulträger und einem Unternehmen aus Andernach gelungen ist, 16 Container zu beschaffen, die wir für die Dauer der Sanierung als Klassenräume nut- zen. Da die Obergeschosse der verbliebenen Gebäude weiter nutzbar sind, können wir so den Schulbetrieb sicherstellen. Die Stunden- zahl ist gleich geblieben, aber da die über- wiegend in den Erdgeschossen befindlichen Werk- und Fachräume nun zerstört sind, ha- ben wir den Wahlpflichtbereich etwas zu- rückgeschraubt und dafür die Stundenanteile in Deutsch, Mathe und Englisch erhöht. Das hilft uns nebenbei, die Defizite aufzuarbei- ten, die in den Corona-Lockdowns entstan- den sind. Wie geht es weiter? LICHTENTHÄLER: Wir rechnen damit, zwei Schuljahre auf einer Baustelle zu verbringen. Aber alle sind dankbar, dass uns das schuli- sche Miteinander ein wenig Normalität gibt. Die Grundstimmung ist positiv.
»Die Schulfamilie trägt uns« In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli geht in Ahrweiler die Welt unter. Das beschauliche Flüsschen Ahr tritt über die Ufer und wird zum reißenden Strom. Die Zerstörungen sind katastrophal. Auch die Philipp Freiherr von Boeselager Realschule plus ist betroffen. Schulleiter Timo Lichtenthäler, zugleich Vorsitzender des Verban- des Reale Bildung Rheinland-Pfalz, spricht im Interview mit lehrer nrw über Verzweiflung und Zerstörung, Mut und Hoffnung.
Wie haben Sie die Nacht der Katastrophe erlebt?
LICHTENTHÄLER: Ich habe am späten Abend des 14. Juli gegen 23 Uhr noch mit unserem Hausmeister telefoniert, der zuver- sichtlich war, dass unsere Schule glimpflich davonkommt. Nur eine Stunde später stand das Gebäude komplett unter Wasser. Am nächsten Morgen bot sich uns ein Bild tota- ler Zerstörung. Unsere Schule besteht aus vier Einzelgebäuden. Alles, was in den Erdge- schossen war, ist nicht mehr existent. Eines der vier Gebäude ist völlig zerstört und muss abgerissen werden. Auch unsere Turnhalle ist massiv beschädigt. Wie waren die Reaktionen in der Schü- lerschaft und im Lehrerkollegium? LICHTENTHÄLER: Zunächst einmal sind wir dankbar und erleichtert, dass alle unserer 650 Schülerinnen und Schüler und alle unse- rer 52 Lehrkräfte die Katastrophe überlebt haben und zumindest körperlich unversehrt sind. Natürlich waren alle emotional extrem aufgewühlt. Elf unserer Lehrkräfte und etwa
Foto: Timo Lichtenthäler
Sechzehn Container dienen als provisorische Klassenräume.
ein Drittel der Schülerinnen und Schüler ha- ben alles verloren. Sie haben kein Zuhause mehr. Es wird dauern, bis diese Katastrophe psychisch einigermaßen verarbeitet ist. Wir haben aktuell bis zu sechs Schulpsychologen und Krisenseelsorger an unserer Schule im Einsatz. Das hilft sehr. Welche Rolle spielt die Schulfamilie in dieser Situation?
SPENDENKONTO Um den Familien der Schülerinnen und Schüler zu helfen, die besonders schlimm von der Flutkatastrophe betroffen sind, hat der Förderverein der Boeselager-Realschule ein Spen- denkonto eingerichtet: Förderverein Boeselager-Realschule Ahrweiler Überweisungszweck: Hochwasserhilfe Boeselager-Realschule Bank: KSK Ahrweiler · IBAN: DE66 5775 1310 0000 8146 32 · BIC: MALADE51AHR
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TITEL
Nach der Flut türmen sich Berge von zerstörten Möbeln und sonstigem Hausrat zur Abholung auf den Straßen.
kommen, um das Erlebte mit der Hilfe ihrer Lehrerinnen und Lehrer sowie ihrer Schulka- meradinnen und -kameraden zu verarbeiten. Das Ausmaß der Zerstörung ist gar nicht in Worte zu fassen. In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli wurden nicht nur die Existenzen vieler Menschen zerstört, sondern auch ihre Psyche. Schnell war klar: Auch wir als Leh- rerverband möchten uns gerne solidarisch zeigen. Bei der Suche nach einer passenden Spendenaktion sind wir auf den kleinen Pa- derborner Stadtteil Elsen gestoßen. Dieser hat es sich zur Aufgabe gemacht, zwei Fa- milien aus dem Ahrtal, die es besonders hart getroffen hat, mit finanziellen Spenden zu helfen. Daher entschloss sich der Stadtteil, eine Art Patenschaft für die Familien Pütz und Josten zu übernehmen und diese gezielt beimWiederaufbau zu unterstützen. Die Häuser von Familie Pütz und Familie Josten wurden von den Fluten so hart getroffen, dass sie kernsarniert werden müssen. Leider werden die Schäden beider Familien nicht von den Versicherungen übernommen, und die finanziellen Belastungen sind enorm. An ein normales Leben im Ahrtal ist noch lange nicht zu denken, aber für Familie Pütz mit den beiden Kindern Malte (8 Jahre) und Christian (7 Jahre) steht fest: Wir möchten unser kleines Paradies, in dem wir lebten, für unsere Kinder wieder aufbauen. Auch Familie Josten möchte ihre kleine Pension wieder errichten, in der Hoffnung, dass das Ahrtal in ferner Zukunft wieder erblüht und viele Touristen in die Weindörfer lockt. Besuchen Sie die Internetseite zur Spen- denaktion: www.elsenhilft.de und erfah- ren Sie mehr über die Familien, denen Sie mit einer kleinen Geldspende unter die Ar- me greifen können. Denn ein wichtiger Bau- stein zur Traumabewältigung ist die Hilfsbe- reitschaft, die die Menschen vor Ort erleben, sei es durch Manpower, Gespräche oder Geldspenden. Helfen Sie mit, den Aufbau der beiden Familien zu unterstützen! Empfänger: ’Flutopfer’. IBAN: DE48 4726 0234 9247 0498 01 (Volksbank Elsen Wewer Borchen)
Wie
nach einem Krieg…
Foto: Marcel Werner
Marcel Werner ist Vorsitzender der Arbeitsgruppe junge lehrer nrw . Er selbst wohnt in der Nähe des Ahrtals, das besonders schwer von der Katastrophe getroffen wurde, hat dort viele Bekannte. In den Tagen und Wochen nach der Flut gehörte er zu den freiwilligen Helfern vor Ort.
takte Bildungsstätten, Ärztehäuser, Pflege- heime oder Einkaufsmöglichkeiten. Das Strom-, Wasser und Gasnetz wird auch in den Wintermonaten noch nicht wieder her- gestellt sein. Viele Schülerinnen und Schüler können aufgrund eines Umzugs nicht in ihre notdürftig hergerichteten Schulen zurück-
von MARCEL WERNER
S o erging es einer jungen Lehramts- studentin aus dem Ahrtal. Die Kata- strophe, die sich Mitte Juli ereignete, zerstörte das Leben vieler Familien. Häuser wurden von den Fluten mitgerissen oder bis auf die Grundmauern zerstört. Die gesamte Infrastruktur ist in einem Zustand wie nach einem Krieg, es gibt kaum noch in- »Ich hatte Todesangst, das Wasser stieg immer schneller, und meine jünger e Schwester und ich wussten nicht, wohin wir uns r etten sollten …«
Foto: privat
Marcel Werner ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft junge lehrer nrw E-Mail: werner@lehrernrw.de
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Blick in ein verwüstetes Privathaus im Ahrtal.
Foto: Tijana/AdobeStock
Verpasste Chancen, verpasste Freundschaften Corona hat vor allem die junge Generation schwer getroffen. Eine Autorin der Süddeutschen Zeitung bringt das so auf den Punkt: »Wenn wir ein Auf- holprogramm brauchen, dann wirklich nur eines: im Unbeschwertsein.«
Generation Corona Was Schülerinnen und Schüler jetzt dringend brauchen
M ehrere totale Lockdowns, Homeschooling, Wechselunterricht, Schulbesuch nur mit Gesichtsmasken und strengen Hygiene- vorschriften, Unterricht mit großen Abständen, an- fängliche Überforderung mit Videokonferenzen und digitalen Unterrichtsmaterialien: Diese Liste könnte fast beliebig fortgesetzt werden. Kurz gesagt: Unsere Schülerinnen und Schüler haben nun eineinhalb Horrorjahre hinter sich. Denn auch ihre Freizeit konnten sie Corona-bedingt nicht wie gewohnt erle- ben und gestalten. Zurecht schreibt Sara Maria Beh-
behani daher in der Süddeutsche Zeitung unter dem Titel »Wir, Generation Corona« über die Situati- on der Jugendlichen: »Statt die Welt zu erkunden, saßen sie zu Hause. Statt Liebe zu suchen, hielten sie Abstand. Die Pandemie hat Europas Jugend vieles genommen, was Jungsein ausmacht.« i Die Erfahrungen der Generation Corona Sehr eindringlich führt die Autorin in dem SZ-Bericht die Lage der Jugendlichen weiter aus: »Zum Er- wachsenwerden gehört dazu, noch nicht wissen
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zu müssen, wer man ist und wer man sein will. Den Ort erst noch finden zu dürfen, an den man gehört. Nur was, wenn die Suche schon wieder vorbei ist, noch bevor man auch nur eine Chance hatte, irgendwo anzukom- men? Die Pandemie hat alles ins Gegenteil verkehrt, was Erwachsenwerden ausmacht: Statt sich näher zu kommen, mussten wir Abstand halten. Grenzen respek- tieren, statt sie zu überschreiten, zu Hause bleiben, statt raus in die Welt zu laufen…« ii Um diese allgemeinen Aussagen noch plausibler zu machen, möchte ich kurz von einer Erfahrung mit einer neunten Klasse erzählen, die ich in Religion am Gymna- sium unterrichtete – ein knappes Jahr vor Beginn der Pandemie. Es war Wandertag Anfang Juni. Zu Fuß wa- ren wir zum nahe gelegenen See marschiert. Dort gab es am Ufer auf einem Hügel einen Feuerplatz. Am Morgen hatte ich mit dem Auto einen Kofferraum voll Holz hin- gebracht. Nach dem Anbrennen des Feuers packten al- le Schüler ihr mitgebrachtes Grillgut aus, spießten es auf kleine Äste und hielten ihre Würste ins Feuer. Auch ein Brotteig wurde über der Glut gebacken. Kartoffel wurden in Alufolie gewickelt und ebenfalls in die Glut gelegt. Die ganze Klasse fühlte sich wohl und saß während des Essens um das Feuer herum. Danach gab es am nahegelegenen Bolzplatz ein Fuß- ballspiel, bei dem es die Jungs wissen wollten, wer die coolere, stärkere, witzigere Mannschaft ist. Die Mädchen feuerten sie begeistert an. Später wurde am Feuer in klei- nen Gruppen geratscht, gechillt und viel gelacht, bevor es nach Löschen der Flammen wieder zurück ans Gym- nasium ging. Dieser Ausflug an den See blieb vielen Schülern in sehr guter Erinnerung, die Klassengemein- schaft wurde dadurch gestärkt, es konnte endlich ein- mal gemeinsam verweilt werden – ohne den üblichen Leistungsdruck an der Schule. Leider fanden solche Veranstaltungen jetzt zwei Sommer lang nicht mehr statt. Und es gab in dieser Zeit auch so viele private Treffen in der Freizeit der Schüler nicht, von einem normalen Unterricht ganz zu schweigen. Viel- leicht kann man die Lernrückstände aus den vergange- nen Monaten wieder etwas ausgleichen. Denn nach Ein- schätzung von Lehrerverbänden haben 20 bis 25 Pro- zent der Schüler Corona-bedingt nun größere Lücken im Lernstoff. Zur Förderung von Kindern und Jugendlichen wurde von der Bundesregierung deshalb im Mai ein zwei Milliarden Euro starkes ’Aktionsprogramm Aufholen nach Corona’ verabschiedet, um Lernrückstände auszu- gleichen und die psychosoziale Belastung von Kindern »Wir brauchen ein Aufholprogramm fürs Leben«
und Familien aufzufangen: »Mit dieser Unterstützung sollen Kinder und Jugendliche nach der Pandemie die bestmöglichen Chancen auf gute Bildung und persönli- che Entwicklung erhalten.« iii Aber kann man auch Blockaden in der psychischen Entwicklung so einfach aufholen wie Lernrückstände? Wenn man vor diesem Hintergrund die Persönlichkeits- entwicklung unserer Jugend insgesamt betrachtet, die durch die Corona-Pandemie in so vielen Fällen massiv gelitten hat, klingen für mich die Aussagen der Autorin in obigem Zeitungsbericht gar nicht mehr so provozie- rend, sondern irgendwie auch verständlich und berech- tigt, weil sie den tiefen Schmerz von Jugendlichen aus- drücken: »Wir brauchen kein Aufholprogramm fürs Lernen. Wir brauchen ein Aufholprogramm fürs Leben. Ein Aufhol- programm für ein Jahr verpasste Chancen und ein Jahr verpasste Freundschaften… Wir brauchen ein Kontingent an Tagen, an denen wir schwänzen dürfen, an den Schulen, an den Unis, in den Firmen, weil wir, statt zu ler- nen oder zu arbeiten, jetzt erst mal ins Schwimmbad ge- hen müssen. An den See fahren, alle zusammen, in die Berge wandern, oder einfach nur einen Sommer lang auf der Picknickdecke liegen, ganz nah beieinander… Wenn wir ein Aufholprogramm brauchen, dann wirklich nur eines: im Unbeschwertsein.« iv Ich hoffe, dass viele Jugendliche in den Sommerferien mittlerweile ein wenig von dem erleben und ein Stück weit nachholen konnten, was die junge Autorin Ende Mai gefordert hatte. Eine solche Prognose ist nach eineinhalb Jahren Coro- na-Einschränkungen an den Schulen noch zu früh. Aber die Situation von jungen Menschen verdient endlich gesellschaftliche Beachtung und Anerkennung. Bevor man sie vorschnell als eine »verlorene Generation« ab- stempelt, sollte man abwarten und beobachten, welche Resilienzfähigkeit in unseren Jugendlichen steckt. Unbeachtet dessen sollten in diesem Zusammenhang aber Studien wie die des Universitätsklinikums Ham- burg-Eppendorf Beachtung finden, in der im Zeitraum Dezember 2020 bis Januar 2021 über tausend Kinder und Jugendliche befragt wurden. Das erschütternde Er- gebnis: Bei fast jedem dritten Jugendlichen sind Corona- bedingte psychologische Auffälligkeiten zu beobachten: depressive Symptome, psychosomatische Folgen wie Magen- oder Kopfschmerzen. In einer österreichischen Studie im Frühjahr 2021 mit 3000 befragten Jugendli- chen wurden bei mehr als der Hälfte von ihnen eben- Bekommen wir eine »verlorene Generation Corona«?
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falls eine depressive Symptomatik, bei sechzehn Prozent sogar regelmäßige suizidale Gedanken fest- gestellt. v Vor dem Hintergrund der psychologischen Ent- wicklung von Kindern und Jugendlichen muss die Lage unserer Schüler leider auch so beschrieben werden: Der natürliche Initiations-Prozess, d.h. die Entwicklung von der Kindheit ins Jugendalter und von der Adoleszenz ins Erwachsensein etwa wäh- rend der gymnasialen Schulzeit, hat bei vielen Schülern doch eine merkliche Schlagseite oder zu- mindest eine deutliche Verzögerung erfahren. Denn der regelmäßige Kontakt mit Gleichgesinnten au- ßerhalb des Elternhauses ist entscheidend für diese beiden Entwicklungsprozesse, die eine schrittweise Ablösung von den Eltern und zugleich den organi- schen Aufbau eines eigenen Bekannten- und Freun- deskreises bedeuten. Und diese natürlichen Kontak- te haben nun seit eineinhalb Jahren fast ganz ge- fehlt. Auf keinen Fall darf es daher im neuen Schuljahr nochmals Wechselunterricht oder gar Homeschoo- ling geben. Entlüftungsgeräte in jedem Klassenzim- mer, weiterhin die Einhaltung der Hygienevorschrif- ten, regelmäßige Tests, sowie die Forcierung von Impfungen auch für Zwölf- bis Achtzehnjährige soll- ten daher jetzt oberste Priorität haben, nachdem die ’Stiko’ vor kurzem dafür endlich grünes Licht gege- ben hat. Für die Impfung ihrer Kinder sollten auch möglichst viele Eltern überzeugt werden – als klei- neres Übel, um eben einen neuen Lockdown oder einen Wechselunterricht zu vermeiden. Zu den angesprochenen Fördermitteln des Bun- des: Ich kann mich den Forderungen von Sven Christoffer, dem Vorsitzenden von ’ lehrer nrw’ nur anschließen, der die konsequente Umsetzung und sinnvolle Einsetzung der in Aussicht gestellten Bun- desmittel aus dem ’Aktionsprogramm Aufholen nach Corona’ fordert, das folgende Schwerpunkte enthält: Neben dem Abbau von Lernrückständen sollen etwa durch Freiwilligen-Dienstleistende und zusätzliche Sozialarbeit auch außerschulische Ju- gendarbeit und Angebote der Kinder- und Jugend- hilfe gefördert werden. Dabei sollte aber die Schule der erste und eigent- liche Ort sein, um die kognitive, emotionale und so- ziale Entwicklung der Schüler bestmöglich zu för- dern – im Unterricht und in außerunterrichtlichen Nicht noch einmal Wechsel- oder Distanzunterricht
Angeboten der Schulen. Die Verankerung der Aus- gaben im System der Schule kann Schnellschüsse und eine nur vordergründige, letztlich aber ineffek- tive Verpuffung dieser Mittel verhindern, sowie ei- nen notwendigen Beitrag zu einer möglichst nach- haltigen Aufarbeitung der Pandemiefolgen leisten. vi
Die Königsaufgaben der Lehrkraft sind jetzt gefragt
Im neuen Schuljahr ist hoffentlich der normale Prä- senzunterricht in voller Klassenstärke wieder die Re- gel. Wie nach einem heftigen und lang andauern- den Sturm können dann die Schäden besichtigt und anschließend beseitigt werden, die die Corona- Pandemie bei den Schülern angerichtet hat – be- züglich ihres Wissensstandes und psychisch. Das Ausmaß der Defizite ist jedoch zunächst nur schwer abschätzbar. Es wird sicher eine Herkulesaufgabe sein, in den einzelnen Schulen spezielle Kurse zum Aufholen der Lernrückstände einzurichten und den davon am meisten betroffenen Kindern zu empfehlen, daran auch teilzunehmen. Denn diese Kurse müssen dann von diesen ja zusätzlich zum normalen Unterricht belegt werden. Dies verlangt viel Geduld und Ein- fühlungsvermögen bei uns Lehrern, die Schüler auf diesem »Weg des Lernens« zu begleiten. Mindestens ebenso wichtig finde ich es jedoch, unsere Schülerinnen und Schüler aus Versagens- ängsten, Depressionen, Vereinsamung und Isolation herauszuholen, in denen sich nicht wenige von ih- nen während der Lockdowns befanden und zum Teil auch jetzt noch befinden. Ihre Situation im Un- terricht jetzt bewusst zu thematisieren, ist ein Weg dazu. Die Fächer Deutsch, Sozialkunde, Ethik und Religion erscheinen mir für diese psycho-soziale Aufgabe geradezu prädestiniert. Darüber hinaus sind wir Lehrkräfte aber alle herausgefordert, unseren Schülern jetzt beizustehen, gerade weil ein Ende der Corona-Krise immer noch nicht wirklich in Sicht ist. Dazu müssen wir uns je- doch unserer eigentlichen ’Königsaufgabe’ als Lehrer bewusst werden, uns an unser Ethos als Pä- dagogen erinnern und die ’Wolke’ des Corona- Hypes endlich beiseiteschieben, in der wir uns seit eineinhalb Jahren befunden haben – angetrieben von immer neuen und kurzfristigen Vorgaben von Bildungspolitik, Kultusministerien und Schulleitun- gen; und dauer-gestresst von der digitalen Transfor- mation des Unterrichts, die viele von uns Lehrkräf- ten schlichtweg überfordert hat.
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Fünf Thesen Diese eigentlichen pädagogischen Aufgaben möchte ich in folgenden Thesen abschließend zusammenfas- sen: 1. These: Im Klassenzimmer bin ich mein eigener König bzw. mei- ne eigene Königin. Trotz all der administrativen und or- ganisatorischen Vorgaben darf ich nie vergessen, dass ich große Entscheidungsspielräume habe – trotz allem. Diese sollten gerade jetzt vermehrt genutzt werden. 2. These: Die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen hungern nach Führung, nach positiver Bestärkung, nach seelisch- geistiger Unterstützung, ja überhaupt danach, als menschliche Wesen in ihrer Entwicklung auf dem Weg zur eigenen Persönlichkeit wahrgenommen und bestä- tigt zu werden. Hier wird unser eigentliches Lehrer-Be- rufsethos nun elementar berührt und angefragt. 3. These: Der altbekannte Slogan ‘Erziehung durch Beziehung’ erlebt gerade jetzt am Ende der Pandemie eine uner- wartete Renaissance und eine dringende Notwendig- keit. Denn die meisten unserer Schülerinnen und Schüler sehnen sich nach einer (guten) Beziehung zur Lehrkraft. Diese Beziehungsebene ist niemals digitalisierbar und operationalisierbar, sie wird immer analog bleiben. Vie- le unserer Schüler brauchen jedoch diese Beziehung zu ihrem Lehrer wie eine tägliche psychische Nahrung, um sich entwickeln zu können. 4. These: Gerade jetzt im neuen Schuljahr sind wir Lehrkräfte ganz unabhängig von unseren jeweiligen Fächern als mitfüh- lende Menschen, als Psychologen und als Seelsorger ge- fragt wie nie zuvor. Auch diese Eigenschaften gehören für mich zur Königsaufgabe von uns Lehrerinnen und Lehrern. Denn ein guter König/eine aufmerksame Köni- gin kümmert sich um seine ’Untertanen’, sorgt für sie auf allen zur Verfügung stehenden Ebenen, hilft, wo er/sie nur kann. Und unsere Schülerinnen und Schüler sind uns eben anvertraut und jetzt besonders bedürftig nach die- ser Zuwendung. 5. These: Konkret brauchen unsere Schülerinnen und Schüler in uns Lehrkräften nun Orientierung, mentale und psy- chische Leitplanken, Ermutigung, Hoffnung, Visionen, einen Impulsgeber fürs Leben, aber auch einen
Helfer/eine Helferin in der ganz praktischen Aufholung von Lernrückständen und in der Befreiung von schuli- schen Versagensängsten und geistigen Blockaden. Fazit: Gerade für das kommende Schuljahr sehe ich eine große Verantwortung und eine nicht zu unterschät- zende Aufgabe für uns Lehrerinnen und Lehrer, die uns anvertrauten Schüler sowohl schulisch-lerntechnisch als auch psychisch-sozial in ihrem Persönlichkeitsprozess zu unterstützen und zu begleiten, so dass die vielfältigen Wunden heilen und Blockaden weichen können, die uns allen die Corona-Pandemie beschert hat. Peter Maier i Süddeutsche Zeitung vom 29./30. Mai 2021, BUCH ZWEI, S. 11 ii ebd. iii www.web.de/magazine/ratgeber/kind-familien-lernrückstände vom 6. Juni 2021
iv SZ, a.a.O. v vgl. ebd. vi vgl. Magazin ’lehrernrw’, Ausgabe 4/2021, S. 3 f.
DER AUTOR Peter Maier ist Gymnasial- lehrer a.D., Initiations- Mentor und Autor. Er unterrichtete seit 1981 an Gymnasien in Bayern. Er ist Autor mehrerer Fachbücher zum Thema Pädagogik und Lehrerge- sundheit.
Literatur zur Pädagogik: (1) ’Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band I: Übergangsrituale’ ISBN 978-3-86991-404-6 (18,99 Euro, Epubli Berlin) eBook: ISBN 978-3-753176-25-3 (Epubli Berlin 2021, Preis: 11,99 Euro) (2) ’Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band II: Heldenreisen.’ ISBN 978-3-86991-409-1 (19,99 Euro, Epubli Berlin) eBook: ISBN: 978-3-752970-59-3 (Epubli Berlin 2020, Preis: 12,99 Euro)
(3) ’Schule – Quo Vadis? Plädoyer für eine Pädagogik des Herzens’. ISBN: 978-3-95645-659-6 (20,99 Euro, Epubli Berlin) eBook: ISBN: 978-3-752956-93-1 (Epubli Berlin 2020, Preis: 12,99 Euro)
Weitere Infos und Buch-Bezug: www.initiation-erwachsenwerden.de
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