Profil 12/2024

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Reiss ging zunächst auf die PISA- Methodik und deren jeweilige Schwerpunkte in den vergangenen Jahren ein (Lesen, Mathematik, Na turwissenschaften) – alles vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Fragestellungen: Wie wirksam sind die Bildungssysteme in den Staaten der OECD? Kommen sie ihrem Auf trag in ausreichender Weise nach? Sind die Bildungssysteme geeignet, allen Jugendlichen gleiche Bildungs chancen zu erö ff nen? Unter welchen Bedingungen fi ndet schulisches Ler nen in den Staaten der OECD statt? Mit Blick auf den jüngsten PISA Schwerpunkt Mathematik verwies Reiss auf teils veränderte Sichtwei sen. Ging es historisch um grund legende arithmetische Fähigkeiten (z. B. Rechnen mit ganzen und ratio nalen Zahlen, Berechnung von Flä chen), sind inzwischen neue Blickfel der dazugekommen: die Digitalisie rung vieler Lebensbereiche, die All gegenwärtigkeit von Daten für Ent scheidungen, gesellschaftliche Herausforderungen wie Klimawan del, Ausbreitung von Pandemien, die Globalisierung der Wirtschaft. Die Leistungen der deutschen Schü ler sind in den vergangenen Jahren stetig zurückgegangen – womit sie allerdings im allgemeinen OECD Trend liegen. (Auch die Leistungen der Schülerinnen und Schüler an Gymnasien sind vom Rückgang be tro ff en, allerdings liegen ihre Leis tungen auf einem weit höheren ab soluten Niveau als die der Schüler an nichtgymnasialen Schulen.) Als mögliche Konsequenz daraus warb Reiss u.a. für einen Blick auf erfolgreichere Staaten – wenn auch mit Berücksichtigung der kulturellen Unterschiede. Für Mathematik kon kret schlug sie eher am Alltag ori entierte Anwendungen vor, mehr Fehlertoleranz und einen größeren Schwerpunkt auf dem Weg zum Lö

sungsziel. Auch die erhöhten Leis tungen in modernen Fremdsprachen („kommunikative Wende“ seit den 1970er-Jahren) sei insofern bemer kenswert, als dass dadurch mögli cherweise auch Impulse für den Mathematikunterricht übernommen werden könnten. Gerade der Blick auf mögliche Kon sequenzen aus den PISA-Ergebnissen entfachte eine intensive Diskussion. Vor allem Arnd Niedermöller, Schul leiter des Imanuel-Kant-Gymnasiums in Berlin Lichtenberg und Vorsitzen der der Vereinigung der Oberstudi endirektorinnen und Oberstudien direktoren des Landes Berlin e.V., mahnte zu großer Vorsicht bei bil dungspolitischen Maßnahmen allein auf Grundlage der PISA-Daten. Einer seiner zentralen Kritikpunkte ist das Schlechtreden des Bildungssystems in Deutschland. In der ö ff entlichen Debatte würden pauschale und oft übertriebene Aussagen getro ff en, wie etwa „Unser Schulsystem ist un gerecht!“ oder „Bildungskatastro phe!“. Dabei werde häu fi g ein Ver gleich mit anderen Ländern gezogen, die angeblich deutlich besser ab schnitten. Niedermöller sieht in die ser Art der Argumentation eine un gerechtfertigte Schuldzuweisung, häu fi g vor allem an das Gymnasium und betont, dass der Fokus auf das punktuelle Übertragen erfolgreicher

15 PROFIL // 12/2024 gebnisse dürften nicht als Grundlage für eine pauschale Abwertung des deutschen Schulsystems dienen,  Bildungssysteme anderer Länder auf Deutschland die Diskussion vereinfache und vereinseitige. Darüber hinaus hinterfragte Nieder möller die Aussagekraft der PISA-Er gebnisse im Hinblick auf die Beurtei lung des deutschen Bildungssystems insgesamt. Während Schülerinnen und Schüler aus dem oberen Leis tungsviertel im internationalen Ver gleich sehr gute Ergebnisse erzielen, zeigt sich gleichzeitig ein größerer Abstand zwischen den oberen und unteren Leistungsgruppen. Länder wie Finnland oder Kanada schneiden hier homogener ab. Niedermöller fragte jedoch, ob die Konzentration auf das Gesamtergebnis der Studie tatsächlich ein realistisches Bild der Leistungsfähigkeit des gesamten deutschen Schulsystems zeichne oder ob dies nicht eher zu pauscha lierenden Fehleinschätzungen führe. Statt das deutsche Bildungssystem generell abzuwerten, fordert Nieder möller eine di ff erenzierte Betrach tung der PISA-Ergebnisse. Besonders wichtig sei ihm, den Blick auf konkre te Herausforderungen zu richten, die sich aus den Ergebnissen ableiten lassen. So hebt er beispielsweise die Frage hervor, wie die sprachlichen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund frühzeitig gefördert werden können. Auch die gezielte Unterstützung von Schulen, die einen hohen Anteil an Schülerinnen und Schülern aus soge nannten „Risikogruppen“ haben, sieht er als dringende Aufgabe an. Abschließend betont Niedermöller, dass seine Kritik sich nicht gegen PISA selbst richte, sondern gegen die Art und Weise, wie die Ergebnisse in der ö ff entlichen Diskussion häu fi g instrumentalisiert würden. Die Er

Foto: Pohl

Prof. Dr. Kristina Reiss von der TU München

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