Blickpunkt Schule 4 2025
Kreuzung mit fünf Straßen ist, kann man darauf vertrauen, dass man sicher auf die andere Seite kommt. Wie schön sieht man das auch an den Bäumen: Keiner von ihnen wür de je gefällt, nur weil er bei einem Jahrhundertsturm der einst umstürzen könnte. Es gibt stattdessen die gewagtes ten Stützkonstruktionen, Bäume, die den Fußweg mit den Wurzeln fast vollständig zerstört haben – eine tiefe Ach tung vor diesem Leben ist so spürbar –, es fällt nicht der vorauseilenden Fürsorge des Staates für den Einzelnen zum Opfer. Und das ist deshalb machbar, da dieses Grund prinzip bekannt und von allen akzeptiert ist. Wie krass ist der Unterschied zu Deutschland! Zusammenleben der Menschen Die Entwicklung der Rolle der Frau ist spannend zu beob achten, weil sie alles andere als selbstverständlich ist. Wie hart war und ist der Kampf, als Frau alleine leben zu dürfen, kein Kopftuch tragen zu müssen oder auch einen Freund haben zu können. Eine Studentin sagt, dass ihre Verwandt schaft am Schwarzen Meer nicht wissen darf, dass sie allein (mit einer Freundin) lebt; dass man dort gegen sie ist, »weil sie Bücher liest«. Man trifft auch Frauen, die weiterhin ein Kopftuch tra gen, die immer in der Familie leben. Aber auch sie strahlen so viel Stolz, so viel Zuversicht und Selbstbewusstsein aus. Weil auch das Studieren allein ja schon eine Befreiung ist, im Verhältnis zu Orten weiter im Osten. Und weil das Kopf tuch oft eine bewusste Entscheidung zum Glauben und seinen Ausdrucksformen ist: das Kopftuch als Symbol da für. Es ist eine Gratwanderung, ja. Aber die Gefahr besteht, in der Verurteilung des Kopftuches ebenso radikal zu sein wie in der Verpflichtung dazu. Und man begegnet auch Menschen, die diese Befreiung nicht geschafft haben Diese Stadt ist durch die urbane Migration der Fünfziger- und Sechzigerjahre geprägt. Bietet sie sich gerade damit nicht förmlich zum Vergleich mit der Emigration nach Deutschland in den Sechzigern und Siebzigern an? Hier in Istanbul fand unter den osttürkischen Migranten seit den Siebzigerjahren bis heute eine aktive Auseinandersetzung in Bezug auf den Einfluss westlicher Kultur statt. Istanbul war ja schon seit dem 19. Jahrhundert immer wieder sehr
» Katzen und Graffiti allgegenwärtig
28 Lehrkräfte im Ausland SCHULE 4|2025
stark durch diesen Ein fluss geprägt. Die neuer liche Auseinanderset zung der westlichen Kul tur seit den Siebziger jahren resultierte letzt lich für die meisten Nachbarschaften in einer Entwicklung hin zu einer
» Die bemalten Treppen als Erinnerung an die Gezi-Proteste 2013
offeneren Kultur und zu selbstbestimmteren Leben. Als Er gebnis ist Istanbul diese sprudelnde Stadt mit ihren offe nen und lebenslustigen, recht freien Menschen; die jungen Erwachsenen, die ihre Ursprungsheimat kennen, die aber stolz sind auf ihre gemeinsame Identität als Bewohner von Istanbul, ungeachtet des harten Existenzkampfes und der Politik. Die Entwicklung in Deutschland war sehr anders, be kanntermaßen. Vielleicht kann man das eher gespaltene Verhältnis der Istanbuler zu den deutschen Türken als ei nen augenfälligen Beleg sehen. Warum das so ist, gehört hier nicht hin. Vielleicht nur so viel, als Anknüpfung zu dem Punkt ‘Verantwortung’: Der Begriff »Integration durch an dere« ergibt für Türken in Istanbul schlicht keinen Sinn, da doch das oberste Prinzip die Verantwortung jedes Men schen für sich selbst ist. Ganz wichtig: dieser Stolz und das Selbstbewusstsein der Menschen, der auch daraus resultiert. Sie wissen um ihre Situation, sie sehen, dass es in Europa anders ist, in vieler Hinsicht so viel einfacher. Aber sie wollen nicht be mitleidet werden, sie möchten vor allem keine Ratschläge, sie möchten nicht von oben herab behandelt werden. Sie möchten Respekt und dass jemand zuhört, so einfach. So selbstverständlich das auch ist, so schwer ist es dann doch offenbar für so manchen deutschen Expat zu leben. Wie peinlich, wenn Deutsche den Istanbulern Ratschläge ge ben. Sollten wir uns denn nicht zuletzt fragen, wie die Wirklichkeit in Deutschland tatsächlich aussieht? Vielleicht ist ein Zeichen für diese Identität die Musik: Auf jedem Fest beginnt spätestens nach der Vorspeise die Musik und damit auch das Tanzen und das Singen. Egal wie
» Autor Martin Pabst vor dem Yachthafen in Tarabia
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