Blickpunkt Schule 4 2025

ben. Andere arbeiten sich in Gruppen durch den Michelin Guide der Sterne-Restaurants. Man geht ins Kino, Konzerte oder intensiviert sein Hobby mit Kursen, wie etwa das Foto grafieren. Oder man lädt sich einfach gegenseitig in Cliquen ein. Das ist schön und prinzipiell einfacher als in Deutsch land, da das Kollegium stets im Wandel ist und nicht eines mit jahrzehntelang gefestigten Strukturen. Je mehr man sich zu den deutschen Kolleginnen und Kollegen hin orientiert, desto schwieriger ist es natürlich, die türkische Lebensweise zu entdecken oder schätzen zu lernen. Ein Kollege äußerte selbst nach zwei Jahren seine Frustration darüber, dass es bei einem lokalen Fest hier im Viertel keine Bierbänke und Würstchen gab … Das trifft natürlich nur auf die ADLK und auf die kurzzei tigen Ortskräfte zu. Eine andere Gruppe im Kollegium sind die Ortskräfte, die schon seit vielen Jahren, zum Teil seit Jahrzehnten hier leben und ihre Familien hier gegründet haben. Hinzu kommt die große Gruppe von türkischen Lehrkräften, zuständig für die türkischen Fächer. Die Alternative ist, sich mehr um türkische Kontakte zu bemühen. Ich persönlich erlebe die Menschen hier als viel offener als in Deutschland. Auch unter Türken ist es nicht ungewöhnlich, Gespräche mit Fremden zu beginnen, die häufig über Smalltalk hinausgehen. Es muss nach solchen Unterhaltungen nicht unbedingt der WhatsApp-Kontakt ausgetauscht werden, aber jede und jeder sind offen dafür, wenn man es möchte. Auf diese Art, durch diese Begegnungen und Gespräche, entwickelt Gruppe: Es sind diejenigen, die Englisch sprechen, die in Is tanbul wohnen, die ausgehen und die offen gegenüber Ausländern sind. All dies ist nicht selbstverständlich. So werden Informationen über die Lebens- und Arbeits wirklichkeit persönlich und damit fassbarer, auch wenn man sie in etwa schon kennt. Ein paar Dinge zähle ich im Folgenden auf, unstrukturiert und in der Auswahl persön lich gefärbt: Wie bedrückend die Inflation ist, vor allem auch die der Mieten. Wie hart die Menschen arbeiten, zum Beispiel die Schichten in einem Krankenhaus, die jeden Arbeits rechtler in Deutschland fassungslos machen würden. Die Frau in der Lokanta arbeitet sechs Tage und jeden Tag neun Stunden. Und auf der anderen Seite die Menschen, die reich oder sehr reich sind, abzulesen beispielsweise an den luxu riösen Autos. Allerdings gibt es auch endlos viele Jobs, bei denen die Menschen den ganzen Tag rumsitzen und auf den Abend warten, allein in der Schule gibt es davon min destens ein halbes Dutzend. Dass alle Studierenden (die man arbeitend in einem Café kennenlernt) mindestens einen, meist zwei bis → → → → sich ein weiteres und tieferes Bild von der Türkei. Natürlich sind diese Men schen aus einer sehr ausgewählten

Lehrkräfte im Ausland

» Wohngegend in Beyoğlu (Zentrum)

drei Jobs nebenbei haben, um über die Runden zu kommen – und das Studium entsprechend leidet. Die Architektin, die aus Perspektivlosigkeit begonnen hat, Schmuck zu entwerfen, diesen nun herstellen lässt und inzwischen ein sehr erfolgreiches Internetgeschäft hat. Oder die Hydrologie-Ingenieurin, die ein Vorspeisen restaurant mit der Mutter eröffnete und scheiterte, ein Café leitete und inzwischen im Büro bei einer Elektrizi tätsgesellschaft arbeitet. Es ist beeindruckend, wie selbstverständlich sich hier jede und jeder auf einen für deutsche Verhältnisse unkonven tionellen beruflichen Weg macht, hier und da arbeitet, ir gendwie weiterzukommen versucht, immer hoffend auf die Gelegenheit, einen Fuß in eine Tür zu bekommen. Jeder fast alle. Und manchmal spürt man als Außenstehender auch, wie viel Freiheit letztlich darin steckt, Unabhängig keit. Es ist eine andere Grundhaltung: Ich bin selbst verant wortlich, es gibt kein soziales Netz, das mich zur Not auf fängt, keine große Firma, unter deren Fittichen ich jahre lang arbeiten werde. Es gibt keinen Automatismus nach dem Studium; aber auch nicht das Korsett eines mäßig ge liebten Jobs, den man vernünftigerweise in Deutschland nie aufgeben würde. Du bist für Dich und Dein Leben ver antwortlich, gestalte es! Dieses Prinzip, das der eigenen Verantwortung, zeigt sich, nebenbei bemerkt, auch im Alltag: Am Kai gibt es kein Geländer, steile Treppen haben oft keine Brüstung, in den Fußwegen sind unerwartete Stufen üblich und die Beleuch tung spärlich, Scooterfahrer fahren auch die Einbahnstra ßen verkehrt herum – all dies in Deutschland undenkbar, aus versicherungstechnischen Gründen oder aus rechtli chen. Hier gilt: DU bist dafür verantwortlich, auf DICH auf zupassen, für Dich zu sorgen. Und dann sieht man auf einmal eine Solidarität der Men schen untereinander. Sie achten gegenseitig aufeinander, weil es nicht ‘der Staat’ tut. Und sie respektieren Deine Freiheit: Auch wenn man bei Rot zwischen Autos über die Straße geht, würde einen nie jemand umfahren, nie würde jemand hupen. Und wo es ohne Ampel chaotisch bei einer hätte es gern anders, natürlich, aber man jammert nicht, man arrangiert sich, es ist so selbstverständlich, für

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»Du bist für Dich und Dein Leben verantwortlich, gestalte es!«

SCHULE 4|2025

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