Blickpunkt Schule 3 2025

das dieser als dokumentarisches Bühnendrama inszenier te. 4 Grundlage waren Hunderte Zeugen- und Angeklagten aussagen, wie sie in Zeitungsberichten wiedergegeben wurden, sowie Peter Weiss’ zeitweilige Anwesenheit bei den von 1963 bis 1965 durchgeführten Frankfurter Auschwitz Prozessen. Die filmische Struktur folgt der des Theaterstücks. Auch der Regisseur des Films, Rolf Peter Kahl, inszeniert sein Werk als Gerichtsverhandlung in einem einzigen Raum, möbliert mit einigen Tischen und Stühlen, ausgestattet mit Mikrofonen. Weitere Kulissen existieren nicht. Zwei Gesänge (Kapitel) führen in das Lager, sechs zeigen die Torturen und Morde, einer die Möglichkeit des Über- lebens und zwei Gesänge haben biografische Anteile. »Wer sich die Mühe macht, die … elf Gesänge mit Hilfe einer Graphik zu verdeutlichen, erkennt ein reiches Bezie hungs- und Entsprechungsspiel, ein Alternieren von Lokal beschreibung …, von Marterdarstellung, von Folterknecht- und Häftling-Gesang.« 5 In diesen 11 Gesängen 6 , jeder in drei Teile untergliedert, werden die Zuschauenden über die Zeugenaussagen durch die einzelnen Komplexe des Lagers geführt. Sie folgen dem Weg der Inhaftierten von der Ankunft bis zum Tod: Gesang von der Rampe – der Transport zum Lager, Ankunft und Aussortieren der Ankommenden in Arbeits fähige und Nichtarbeitsfähige Gesang vom Lager – Zustände im Lager (Bestrafungen, Tätowierungen, Baracken, Waschräume, Latrinen, Essen, Appelle, Kleidung, Quälereien, Hierarchien, Überlebens strategien) Gesang von der Schaukel – Totenlisten, Vernehmungen, Folter und Tötungsarten Gesang von der Möglichkeit des Überlebens – medi zinischer Komplex, Häftlinge als ‘Funktionshäftlinge’, Hinrichtungen, medizinische Experimente, Widerstand Gesang vom Ende der Lili Tofler – Zusammenarbeit Lagerindustrie und pharmazeutische Industrie, Brief einer Inhaftierten an einen Inhaftierten und der Tod der Frau → → → → → Gesang vom Unterscharführer Stark – Massen- vernichtungen in Krematorien, Starks Biografie in Ausschnitten Gesang von der schwarzen Wand – Verhöre und Erschießungen Gesang vom Phenol – Ermordungen durch Injektionen, medizinische Experimente, Ermordungen von Kindern Gesang vom Bunkerblock – Stehzellen/Hungerzellen, Dunkelzellen/Tötungen durch Zyklon B Gesang vom Zyklon B – Vergasung Gesang von den Feueröfen – Vergasung, Verbrennung → → → → → →

Zentrales filmisches Mittel ist die Sprache. Durch Opfer- und Täteraussagen wird das Leben in den verschiedenen Bereichen des Lagers rekonstruiert und der grauenhafte Alltag sichtbar gemacht. Alle 39 Zeugen, 18 Angeklagte, der Richter, der Verteidiger, der Ankläger agieren völlig zu rückgenommen. Die Zeuginnen und Zeugen erzählen das Erlebte in klaren, eindringlichen Worten und deutlicher Ar tikulation. Richter, Ankläger und Verteidiger lenken die Ver handlung mit knappen Einlassungen und Fragen. »Es gibt keine Emotionalisierung, kaum stockende Reden, keine Tränen, kein Schreien. Es zählt das gesprochene Wort.« 7 »Die Konzentration auf die wie auf einer Theaterbühne agierenden Menschen, auf ihre Gesichter und ihre Augen, vermittelt nachvollziehbar, gerade in Verbindung mit der protokollhaften Sachlichkeit, das pure Grauen der NS-Ver brechen. Licht- und Farbsetzung sind bewusst kühl ge setzt. So entsteht eine distanzierte Reflektion, die die Zu schauenden immer wieder zwingt, sich dem Gehörten zu stellen.« 8 Wirkungen des Films Von den Zeugen sachlich vorgetragen werden die erlebten Qualen, werden die unvorstellbaren und ungeheuerlichen Gräuel des Lagers ans Licht geholt. Die Reaktionen der An geklagten, von denen sich viele in der Bundesrepublik eine neue Existenz geschaffen hatten, reagieren auf die Ankla gepunkte mit Erinnerungslücken oder mit dem Hinweis auf den auszuführenden Befehl oder mit der Behauptung, nicht ‘zuständig’ gewesen zu sein. Diese Ablehnung jed weder Verantwortung, das Fehlen eines schlechten Gewis sens, der Mangel an Empathie kombiniert mit einer kühlen Überheblichkeit kontrastieren das von den Opfern Erlebte und dessen Negierung durch die Täter. Die Zuschauenden bleiben fassungslos, wütend oder traurig zurück. Besonders das Dokumentarische, die Versachlichung des Grauenhaften durch die klare Sprache, die Anlage als Kammerspiel im kargen Gerichtssaal, die Zurückgenom menheit aller Protagonisten, die stilisierten Outfits der An geklagten in ihren Anzügen und mit ihren Sonnenbrillen, ihre dichotomische Emotionalität als Empörte oder Unge rührte, legen das Funktionieren des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz als Herrschaftsinstrument des nationalsozialistischen Staates bloß. »Die Ermittlung löst die Grenzen zwischen theatralem und filmischem Arbeiten auf. Aus dem Hybriden seiner Ent stehung erwachsen eine emotionale Intensität und eine analytische Schärfe, die sich eigentlich auszuschließen scheinen.« 9 Gerade diese Wechselwirkung von Verstand und Emotion macht den Film sehr wirkungsintensiv. »Er entfaltet die Dialektik von Zeigen und Sehen und vom Nichtzeigen und -sehen. Das Ergebnis ist ein Zeigen, ohne abzulenken. … Er führt vor, dass Kino nicht notwendig Emotion und Gefühl intensität ist, sondern auch Analyse und Gedankenschärfe. Und er zeigt, dass am besten beides zusammenfließt …

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