Blickpunkt Schule 2/2023
Literarischer Kanon – eine Lizenz zum Lesen?
Editorial
L esen wird zu Recht als Schlüs selkompetenz für Lernen und gesellschaftlicheTeilhabe gese hen, auch im digitalen Zeitalter. Es för dert die Fantasie und den aktiven Spracherwerb der Lesenden. Lesen ist aber nicht gleich Lesen: Es ist ein Un terschied, ob ich einen Groschenroman lese oder einen Gesellschaftsroman von Fontane. In der Praxis des Litera turunterrichts stellt sich notwendiger weise die Frage: Was lohnt zu lesen? Welche Werke sollte ein junger Mensch unbedingt lesen in seiner – zweifelsohne begrenzten – Schulzeit? Ein Orientierungsbedürfnis lässt sich konstatieren, blickt man etwa auf die medial verbreiteten zahllosen Leselis ten, die aber mit einem ‘Kanon’ nicht verwechselt werden dürfen. Mit der Frage nach einem Kanon fühlt man sich zunächst einmal aufs Glatteis geführt und sieht sich inmit ten von didaktischen Kontroversen. Sehr bald stellt sich nämlich auch hier die ‘Gretchenfrage’: Wie sinnvoll kann ein Literaturkanon für den Deutsch unterricht sein? Zeugt es von Anma ßung, wenn man einen Königsweg von literarischen Werken sucht und glaubt gefunden zu haben? Die heutige Deutschlehrkraft lebt mit Diskussionen über Kanon- und Wertungsfragen, gleichzeitig mit schulinternen Absprachen über die Lektüreauswahl für den Unterricht, weiterhin mit der eigenen Lesebiogra fie, und aktuell in der Oberstufe Un terrichtende haben auch die – mit den Jahren – geschrumpfte ‘Leselis te’ zur Vorbereitung auf das Landes abitur 2023 vor Augen, eine Zusam menstellung von mittlerweile nur sechs Nennungen für das Grundkurs-, sieben für das Leistungskursniveau, darunter Goethes ‘Faust I’ und E.T.A. Hoffmanns ‘Der Sandmann’. Läuft man Gefahr, als ‘selbst ernannter Ka noniker’ bezeichnet zu werden, wenn man angesichts dieser ‘Übersichtlich
Welche (Werte-)Kriterien legt man an? Man mischt sicherlich Expertenrun den auf, bringt sie gar in Verlegenheit mit dieser Frage, denn es mangelt in der Breite an konsensfähigen Krite rien. Ein Experte wie der Literaturkriti ker Denis Scheck (2019) freut sich in diesem Kontext auf eine ‘lustvolle De batte’. Deutschlehrer kennen den Wert ‘guter’ Texte für die geistige Rei fung der jungen Menschen und wis sen, wie sehr sie deren gedanklichen Horizont erweitern können. Sie schät zen die Chance, mit Literatur ethische Orientierung zu bieten, Empathie zu stärken, vielleicht auch etwas ‘Le benshilfe’ zu geben. Schule sollte ih rer Bedeutung und Verantwortung als kanonisierende Bildungsinstitution gerecht werden. Welche Werke sind ‘kanonfähig’? Das sind solche, die »eine gewisse Überzeitlichkeit« auszeichnet, in ei nem Kanon sollten sichWerke wieder finden, die »dem Zahn der Zeit entho ben sind und von bloßen Moden und Trends unberührt bleiben«. Diesem Diktum von Denis Scheck (vgl. ‘Schecks Kanon’, München 2019) ist vorbehaltlos zuzustimmen. ‘Goldstan dard’ in der Literatur sei, so Scheck weiter, was den ‘Blick auf die Welt’ verändert. Das kann auch ohne Weite res für heutige ‘Bestseller’ gelten. Literatur ist ein Kulturgut, das be wahrt werden sollte: nicht im Muse um, sondern in einer lebendigen Tra dierung in den Köpfen dank eines Kanons. Fazit Ein Ja zum Kanon, Totgesagte leben bekanntlich länger! Die Bildungsinsti tution Schule ist – neben der Univer
von REINHARD SCHWAB Vorsitzender des Hessischen Philologenverbandes
keit’ der Listen Unbehagen spürt? Aus dem Hessischen Kultusministerium erreichten letzthin die Schulen – im Rahmen eines Maßnahmenpakets zur Stärkung der Bildungssprache Deutsch – ‘Lektüreempfehlungen für den Deutschunterricht’ in der Primar- und Sekundarstufe I (2022). Markiert dies etwa eine Rückwende in der Ka nonfrage? Was aber ist ein Kanon in der Literatur? Die Literaturwissenschaftlerin Simone Winko (1996) versteht als Kanon »ein Corpus von Texten (…), das eine Ge sellschaft oder Gruppe für wertvoll hält und an dessen Überlieferung sie interessiert ist«. Demnach ist Literatur immer auch ein Spiegel ihrer Zeit aus individueller, subjektiver Sicht. Ihre Rezeption for dert die Auseinandersetzung damit und eine Stellungnahme dazu aus heutiger Sicht. So ergibt sich eine Ver bindung von Vergangenheit und Ge genwart: Woher kommen wir, wohin wollen wir? Das nennen wir kulturelle Bildung. Bildungspolitiker sollten sich dem nicht entziehen. Wie formuliert der Germanist und Schriftsteller Peter von Matt (1997) spitzzüngig: »Bestritten wurde der Kanon stets von literarisch unbelese nen Theoriemolchen. Diese sind nicht mehr überall an der Macht, aber die Eier, die sie gelegt haben, stinken im mer noch. Mindestens zwei Genera tionen junger Leute wurden von ihnen betrogen.«
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SCHULE
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