lehrernrw 5/2021
SERIE HAUPTSCHULEN
Die vergessene Schulform
I n Nordrhein-Westfalen gibt es (immer noch) 175 Hauptschulen, rund 6300 Hauptschul-Lehrkräfte und über 52 000 Hauptschüler. Und doch bewegt sich die Hauptschule in der öffentlichen Wahrneh- mung und beim Image unter dem Radar. Aber gerade in Zeiten, da Schlagworte wie Fachkräftemangel, individuelle Förderung oder Inte- gration die (schul-)politische Diskussion prägen, kann die Haupt- schule ihre Stärken ausspielen. Höchste Zeit also, die vermeintlich vergessene Schulform wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein zu
rücken. lehrer nrw tut dies zum einen mit einer Serie, in der wir in loser Folge Hauptschulen vorstellen, die mit innova- tiven Konzepten und guter Arbeit erfolg- reich sind. Zum anderen leistet lehrer nrw mit dem Referat Hauptschulen Überzeugungsarbeit. Referatsleiterin Kerstin Thomsen, selbst Hauptschulleh- rerin mit Leidenschaft, stellt ihre Ziele im Kurzinterview vor. Warum Hauptschule? Weil hier das Kind als Mensch im Vor- dergrund steht und nicht als Produzent
Auf- erstanden! Wie wichtig Hauptschulen für das Schulsystem sein können, zeigt die Martin-Luther-King-Hauptschule (MLKS) in Velbert eindrucksvoll. Die Schule, die schon kurz vor der Schließung stand, ist wieder re- aktiviert worden und bietet mit Schwerpunkten auf Berufsorientierung und Montessori-Pädagogik gut 300 Schülerinnen und Schülern eine Heimat.
Foto: privat
Kerstin Thomsen, Leiterin des Referats
Hauptschulen im lehrer nrw
von Leistungen. Leistung ist wichtig, darf aber nicht der absolute Maßstab sein. Es geht zum Beispiel auch um soziale Fähigkeiten und Persönlichkeitsentwicklung. Die Hauptschule legt den Fokus auf Fä- higkeiten, die an anderen Schulformen gar keine oder nur eine unter- geordnete Rolle spielen, etwa handwerkliche oder kreative Fertigkei- ten. Und schließlich: Die Hauptschule ist ein überschaubares System, in der die Lehrkräfte alle Schüler kennen und umgekehrt. Diese fami- liären Strukturen tun den Kindern gut. Viele wären in großen Syste- men überfordert. Sie selbst waren zwischenzeitlich an einer anderen Schulform, sind aber zur Hauptschule zurückgekehrt. Warum? Mir gefällt die Mischung aus Pädagogik, Erziehung und Bildung, für die die Hauptschule steht. Mir gefällt der hohe Praxisbezug, den kei- ne andere Schulform bietet. Mir gefällt, dass die Hauptschule viele Anschlussmöglichkeiten bietet – sowohl in Richtung Ausbildung und Beruf wie auch in Richtung einer fortgesetzten Schullaufbahn mit Realschulabschluss. Kurz gesagt: Die Hauptschule ist meine Schul- form. Sind Sie optimistisch, was die Zukunft der Hauptschulen angeht? Jein. Politisch genießt die Hauptschule schon seit Jahren keine Priori- tät. Andererseits bin ich überzeugt: Eine Einheitsschule funktioniert nicht. Meinem Empfinden nach besinnen sich gerade viele Eltern zu- rück auf die Hauptschule. Ich bin gespannt.
FF ür eine Schule, die fast schon tot war, macht die Martin-Luther-King-Haupt- schule einen ziemlich lebendigen Ein- druck. Tatsächlich war die Schule schon aus- laufend gestellt. Die neue Schulleiterin Bar- bara Kreimer war gerade einen Monat im Amt, als Schulausschuss und Rat der Stadt Ende 2018 die Gründung einer neuen Ge- samtschule in einem anderen Velberter Stadtteil beschlossen – verbunden mit der Auflage, die Hauptschule zu schließen. Statt zu gestalten, sollte Barbara Kreimer ihre neue Schule abwickeln. Wiederaufnahme des Schulbetriebs Doch die Pläne der Kommunalpolitiker und der Bezirksregierung bestanden den Praxis- test nicht. Infolge des Aufnahmestopps an
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lehrer nrw · 5/2021
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