Blickpunkt Schule 2/2023

die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der NS-’Euthanasie’ am historischen Ort der Tötungsan stalt Hadamar. Oftmals kommen Schülerinnen und Schüler mit der Erwartungshal tung, eine KZ-Gedenkstätte zu be suchen und mehr über die Verfol gung und Ermordung jüdischer Bür gerinnen und Bürger zu erfahren. Dies zu Beginn des Besuchs aufzu brechen, die genauen Unterschiede zwischen einer Tötungsanstalt und einemVernichtungslager sowie das Spektrum aller im Zuge der Rassen ideologie verfolgten Gruppen zu er läutern, führt dazu, dass letztendlich die Zeit fehlt, sich mit dem Ort selbst und seiner gesellschaftspolitischen Relevanz zu beschäftigen. Je mehr Zeit im Unterricht in die inhaltlich Vor- und Nachbereitung der Schülerinnen und Schüler inves tiert wird, desto mehr können diese vom Besuch der Gedenkstätte im Sinne einer nachhaltigen politischen Bildung profitieren. Literatur Gabriel, Regine: Die Gedenkstätte Ha damar – auch ein Ort für Kinder, in: Gabriel, Regine (Hrsg.): ‘Es war sehr schön und auch sehr traurig’. Frühes Geschichtslernen an NS-Gedenk stätten für Kinder von 8–12 Jahren. Beispiele und Erfahrungen, Frankfurt am Main 2018, S. 85–108. Gabriel, Regine (Hrsg.): ‘Es war sehr schön und auch sehr traurig’. Frühes Geschichtslernen an NS-Gedenk stätten für Kinder von 8–12 Jahren. Beispiele und Erfahrungen, Frankfurt am Main 2018. George, Uta/Lilienthal, Georg/Roel cke, Volker/Sandner, Peter/Vanja, Christina (Hrsg.): Hadamar. Heilstät te – Tötungsanstalt – Therapiezen trum, Marburg 2006. George, Uta: ‘Was geschah in Hada mar in der Nazizeit?’ Ein Katalog in leichter Sprache, 2. Auflage, Kassel 2008. Haug, Verena: Am ‘authentischen’ Ort. Paradoxien der Gedenkstättenpäda gogik, Berlin 2015. Lilienthal, Georg: Gaskammer und Überdosis. Die Landesheilanstalt

dazu, Themenaspekte der ‘Euthana sie’ zu vertiefen und ein reflektiertes bzw. (selbst-)reflexives Geschichts bewusstsein zu entwickeln. Auch die Arbeit mit Krankenakten ist eingebettet in eine thematische Hinführung und einen Rundgang. Da ran anschließend findet in Kleingrup pen ein vertiefendes Aktenstudium anhand ausgewählter und aufbereite ter Dokumente statt. Die Annäherung an eine individuelle (Kranken-)Geschichte über diese Quellengrundlage kann herausfor dernd sein und ist daher nicht für alle Schulklassen und Schulformen geeig net. Die Akten bilden die Vergangen heit nicht vollumfänglich ab, sie ge ben lediglich einen Einblick auf das Geschehen und den Menschen aus ei ner ganz bestimmten Perspektive. Dies gilt es, quellenkritisch einzuord nen und zu kontextualisieren. Fragen in der Auseinandersetzung mit den Quellen können sein: Wie setzt sich ein solches Dokument zu sammen? Welche Faktoren beeinflus sen die Entstehung und das Aussehen einer solchen Akte? Für welchen Zweck wurde sie angelegt und aus welcher Perspektive ist sie verfasst? Auch gilt es zu erkennen, wie die In halte der Akte zu den zuvor erhalte nen Informationen aus dem Rund gang passen. Welche Aussagen lassen sich anhand der Quelle zu dem Sys tem der NS-’Euthanasie’ (in Hada mar) treffen? Finden sich Widersprü che oder weiterführende Informatio nen? Zuvor erlangtes Wissen kann so dekonstruiert, überprüft und disku tiert werden. Eine weitere Erkenntnis der Ausei nandersetzung mit den Quellen kann auch darin bestehenden, dass nicht al le Aspekte abschließend geklärt wer den können. Dies kann ggf. als Anreiz dienen, sich eigenständig weiterfüh rend mit der Geschichte zu befassen. Vor- und Nachbereitung eines Gedenkstätten- besuchs Schwerpunkt der Bildungs- und Ver mittlungsarbeit der Gedenkstätte ist

Hadamar als Mordzentrum (1941– 1945), in: George, Uta/Lilienthal, Georg/Roelcke, Volker/Sandner, Pe ter/Vanja, Christina (Hrsg.): Hada mar. Heilstätte – Tötungsanstalt – Therapiezentrum, Marburg 2006a, S. 156–175. Müller, Ulrich/Wachsmann, Corinna: Krankenakten als Lebensgeschich ten, in: Rotzoll, Maike et al. (Hrsg.): Die nationalsozialistische ‘Euthana sie’-Aktion ‘T4’ und ihre Opfer. Ge schichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn u.a. 2010, S. 191–199. Rotzoll, Maike et al. (Hrsg.): Die natio nalsozialistische ‘Euthanasie’-Aktion ‘T4’ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Ge genwart, Paderborn u.a. 2010. 1 Zu den Abläufen in der Tötungsanstalt siehe auch: Lilienthal, 2006. 2 vgl. Sandner, 2003, S. 622. 3 vgl. Schreiben einer überlebenden Patientin an die Staatsanwaltschaft Limburg, Abschrift: HHStAW, Best. 461, Nr. 32061, Bd. 1, Bl. 42. 4 vgl. Aussage Adolf Wahlmann vor dem Landge richt Frankfurt am 27. Februar 1974, HHStAW, Abt.461, Nr. 32061, Bd. 7, Bl. 26. 5 vgl. Schreiben einer überlebenden Patientin an die Staatsanwaltschaft Limburg, Abschrift: HHStAW, Abt.461, Nr. 32061, Bd. 1, Bl. 49 6 Eidesstattliche Erklärung von Irmgard Huber in Frankfurt am Main am 31.12.46, Punkt 4, HHStAW, Best. 461, Nr. 32061, Bd. 6, Bl. 830. 7 vgl. Regine Gabriel, Die Gedenkstätte Hadamar – auch ein Ort für Kinder, in: Regine Gabriel (Hg.), ‘Es war sehr schön und auch sehr traurig’. Frühes Geschichtslernen an NS-Gedenkstätten für Kinder von 8 – 12 Jahren. Beispiele und Er fahrungen, Frankfurt/M. 2018, S. 85-108. Aktu ell findet eine Überarbeitung und Neukonzepti on des Angebots statt. 8 In einem 2003 von Uta George initiierten Pro jekt wurden Führungen und Texte in leichter Sprache entwickelt, die bis heute in der Ge denkstätte eingesetzt werden. Vgl. Uta George, ‘Was geschah in Hadamar in der Nazizeit?’ Ein Katalog in leichter Sprache, 2. Aufl. Kassel 2008. Aktuell findet eine Überarbeitung und Neukonzeption des Angebots statt. 9 2019 besuchten insgesamt 22.067 Personen die Gedenkstätte, darunter 13.519 Schülerinnen und Schüler. 10Die Busgarage wurde 1948 im Innenhof abge baut und auf das zur Anstalt gehörende Hofgut Schnepfenhausen gebracht, wo sie als Scheune genutzt wurde. 2006 wurde sie aufwändig res tauriert und im Innenhof der Gedenkstätte nahe dem ursprünglichen Standort wiederaufgebaut. 11 vgl. Haug, 2015, S. 79. 12 Zur Bedeutung von Krankenakten zur Rekon struktion individueller Lebensgeschichten vgl. allgemein: Müller/Wachsmann 2010, S. 191– 199.

Politische Bildung

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SCHULE

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