Blickpunkt Schule 2/2020

Inklusion – Gymnasien auf der Anklagebank

Die Enttäuschung der in Berlin beteiligten Lehrerinnen und Lehrer sei massiv gewesen, mehr als neunzig Prozent würden das Experiment nicht wiederholen; es habe sich er- wiesen, dass die Realität des Lebens eine andere sei als die der gesetzten Ideale, was im Sinne des von Ahrbeck zitier- ten Züricher Pädagogikprofessors Roland Reichenbach nicht für die Qualität dieser Ideale spreche. Schwache Aus- gangspositionen blieben im Laufe der Entwicklung erhal- ten und das weitreichende Versprechen, die Inklusion kön- ne daran etwas ändern, erfülle sich nicht. Zudem sei auch gesichert, dass sie in der Regel keinen Anschluss an die all- gemeine Entwicklung finden. Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen habe 2015 heftig kritisiert, dass Deutsch- land die Inklusion an ganz entscheidenden Punkten ver- fehle. Dabei werde das Nebeneinander von allgemeinen und Förderschulen heftig angegriffen und die Vereinbarkeit von Inklusion und gegliedertem Schulwesen bezweifelt. Diese äußerst kritische Sichtweise werde auch von deut- schen Inklusionsvertretern geteilt. Demgegenüber habe allerdings das Kultusministerium schon vor Jahren erklärt, dass sich aus der UN-Konventi- on keine Aussagen über die Gliederung des Schulsystems herleiten ließen und der Besuch spezieller Einrichtungen nicht als diskriminierend anzusehen sei. Das ’German Statement’ (2015), das vom Bund, den Ländern, dem Mi- nisterium für Arbeit unter Beteiligung der Kultusminister- konferenz verfasst wurde, weist unter anderem darauf hin, dass verfassungsrechtlich Wahlmöglichkeiten zwi- schen unterschiedlichen Beschulungsformen verpflich- tend seien. Die ’Bestandsaufnahme’ enthielt unter anderem folgende Punkte: • Es wurden objektiv-rechtliche Gründe für die Erhaltung der Förderschulen festgestellt, während die UN-

Dr. phil. Bernd Ahrbeck , Professor für Psychoanalytische Pädagogik an der IPU Berlin und seit vier Jahrzehnten Ver- fasser zahlreicher Publikationen zu verschiedensten psy- chologisch-pädagogischen und klinischen Themen befass- te sich unter anderem intensiv mit Bildungspolitik und spe- ziell auch mit dem seit einigen Jahren maßgeblichen The- ma ’Inklusion‘. Gegliedert war der Vortrag in drei Hauptaspekte, über- schriebenmit ’Bestandsaufnahme’, ’Über Ideale, Menschen- rechte und Empirie’ und ’Dekategorisierung’, und zur Einfüh- rung seiner kritischen Auseinandersetzungmit der Thematik erläuterte Prof. Ahrbeck wesentliche Ergebnisse der Empirie auf diesemFeld, auch aus eigenen Untersuchungen. Viele Untersuchungen zeigten, dass Kinder mit Beeinträchtigun- gen des Lernens von einer gemeinsamen Beschulung profi- tieren, aber dies gelinge bei Weitemnicht durchgängig, auch dann nicht, wenn gute äußere Bedingungen vorliegen. Besondere Probleme bereiteten Kinder mit Verhaltens- störungen (ICD-10) beziehungsweise dem Förderbedarf emotional-soziale Entwicklung. Für sie gebe es weltweit keine Modelle, die nachweisen, dass eine durchgängige ge- meinsame Beschulung ertragreich möglich sei. Spezielle Einrichtungen seien insbesondere für diese Personengrup- pe unverzichtbar. »Anfangserfahrungen mit der inklusiven Schule [Grund- schule] in Berlin« hätten ergeben, dass die Leistungsstär- keren nicht zurückgefallen sind, Schwache jedoch schwach geblieben sind. Das soziale Miteinander habe sich zwar als weitgehend komplikationslos erwiesen, allerdings nur bis zur Pubertät, danach sei diesbezüglich eine Umkehrbewe- gung zu beobachten, auch dass bestimmte Kinder, zum Beispiel solche mit geistiger Behinderung, trotz pädagogi- scher Bemühungen in eine Randposition geraten.

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