Blickpunkt Schule 1 2025

Interview mit Daniel Neumann

? Wie wird jüdischen Schülerinnen und Schülern in Hessen der Zugang zu religiöser Bildung ermöglicht? ! Jüdische Schülerinnen und Schü ler, die auf die jüdische Schule in Frankfurt gehen, nehmen am Religi onsunterricht im Rahmen des Klas senverbands teil, der zum Regelunter richt gehört. Im Bereich der öffent- lichen Schulen wird der jüdische Reli gionsunterricht in Form von speziellen Kursen am Nachmittag erteilt, die in Kooperation mit dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen und den jeweiligen Mitgliedsgemein den stattfinden. Dafür kommen Schülerinnen und Schüler unterschied licher Klassenstufen und Bildungsein richtungen bei einer jüdischen Religi onslehrkraft zusammen, wo sie ge meinsam unterrichtet werden. Der Unterricht ist dabei vom Hessischen Kultusministerium als schulgleicher Unterricht anerkannt. Er bildet damit ein Äquivalent zu evangelischen, ka tholischen oder anderen anerkannten bekenntnisorientierten Religionsun terrichten. ? Welche Maßnahmen ergreifen Schulen in Hessen, um jüdische Traditionen und Feiertage im Schul alltag zu berücksichtigen? ! Die hessische Verordnung zur Ge staltung des Schulverhältnisses sieht eine Befreiung und Beurlaubung zu religiösen Feiertagen vor. Schüle rinnen und Schüler sind auf Antrag ih rer Eltern und ab dem 14. Lebensjahr, auf ihren eigenen Antrag, aus religiö sen Gründen vom Unterricht für die Zeit des Gottesdienstbesuchs oder für einen religiösen Feiertag, der nicht gesetzlicher Feiertag ist, vom Schul besuch freizustellen. Für nachweislich jüdische Schülerinnen und Schüler gilt die Befreiung an Samstagen (Shab bat), am jüdischen Neujahrsfest (Rosch Haschana), am Versöhnungs tag (Jom Kippur), am Laubhüttenfest (Sukkoth), am Fest der Torafreude (Simchat Tora), am Fest der Über

gemeinsame Website erstellt, die ‘Kommentierte Materialsammlung zur Vermittlung des Judentums’ 2 , auf der Lehrkräfte empfehlenswerte didak tisch aufbereitete und für den Unter richt unmittelbar nutzbare Materia lien finden können, um Themen rund ums Judentum zu unterrichten. ? Halten Sie die Auseinanderset zung mit dem Holocaust in hessi schen Schulen für angemessen und ausreichend? ! Die Erinnerung an den Holocaust bleibt nach wie vor sehr wichtig. Sie darf jedoch nicht historisiert wer den und muss einen Bezug zur Ge genwart herstellen. Die Gründe und Mechanismen der nationalsozialisti schen Ideologie müssen beleuchtet werden, um die Prozesse zu verste hen, die sich in der Ausgrenzung, der Verfolgung und der Vernichtung des europäischen Judentums realisiert haben. Im Unterricht gilt es herauszu arbeiten, wie eine Minderheit zur Pro jektionsfläche sozialer Ängste werden kann und warum solche Denkmuster auch heute noch aktuell und gefähr lich sind, nicht nur für Jüdinnen und Juden. Auch mangelnde Selbstkritik, unzureichende Bereitschaft, Verant wortung für das eigene Handeln zu übernehmen und das Unbehagen, von der Mehrheit abweichende Positionen zu vertreten, sind zu thematisieren, um den uralten Judenhass besser zu verstehen. Fachlehrkräfte müssen in der Lage sein, in ihrem Unterricht nicht nur über, sondern auch gegen Antisemi tismus zu bilden. Das beinhaltet eine Verzahnung mit den Inhalten zur De mokratiebildung, wie sie aktuell von der Kultusministerkonferenz empfoh len wird 3 , denn Antisemitismus ist eine Gefahr für die Demokratie. Wie Rabbiner Jonathan Sacks es aus drückte: Der Hass, der mit den Juden beginnt, endet nicht mit den Juden. Die Vermittlung der Geschichte des Antisemitismus und der Schoa im Klassenzimmer muss auch einen

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Titelthema

Daniel Neumann ist ein deut scher Rechtsanwalt, Autor und seit 2023 Vorsitzender des Lan desverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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schreitung bzw. der Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei (Pessachfest) und am Wochenfest (Schawuot). ? Welche Ressourcen und Materia lien stehen hessischen Schulen zur Verfügung, um jüdische Geschichte und Gegenwart zu unterrichten? ! Bei der Vermittlung des Judentums stehen häufig nur die Themen Holocaust, Antisemitismus und selten Israel im Mittelpunkt. Damit verfestigt sich das Bild von Juden als Opfer. Sie waren jedoch auch in der Geschichte handelnde Subjekte. Jüdische Ge schichte darf nicht als Sonderge schichte erzählt werden. Sie ist Teil der deutschen Geschichte und sollte auch als solche vermittelt werden, um deutlich zu machen, dass Juden ein integraler Teil der deutschen Gesell schaft sind – und das seit mehr als 1700 Jahren. Sie sind keine ‘Fremden’. Hier müssen auch die Schulbücher nachbessern. Dazu gibt es schon seit Jahren verschiedene Studien und Ver besserungsvorschläge 1 . Der Zentralrat der Juden und die Kultusministerkonferenz haben eine

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