Bildung aktuell 3/2024

Thema

Ich finde wenig so erhellend und bereichernd wie das ‘close reading’ eines Gedichts, das langsame, präzise Lesen jeder Zeile mit der Frage im Hintergrund, auf wie viele Arten sich die Worte in ihrer Ambivalenz und Vielschichtigkeit deuten lassen.

An der amerikanischen Lyrik mag ich die Offenheit, unverkrampfte Emotio nalität, die Lust am Spiel, den Blick fürs Wesentliche. Ich hoffe, dass diese Ei genschaften auch auf meine Texte ab färben. Aber ich schulde dem Engli schen noch viel mehr. Denn einer Äs thetik der deutschen Sprache war ich mir nicht von vornherein bewusst. Das lag vor allem daran, dass ich in der Nachkriegszeit groß wurde und die kri tische Betrachtung alles Deutschen an erster Stelle stand. Auch daran, dass Deutsch Alltagssprache, also Ge brauchsmittel war. Aus der Schule erin nere ich mich in Sachen Lyrik leider nur an die Dada-Gedichte im Deutschun terricht der 8. Klasse, die mit ihrem ‘ra tatatata’ die Geräusche aus den Schüt zengräben des Ersten Weltkriegs imi tieren sollten. Ich brauchte den Um weg über das Englische und das Fran zösische, um zu begreifen, was an Sprache schön sein kann und was die besondere, ja enorme Schönheit der deutschen Sprache ausmacht. ? Lyrik spielt bei Zentralabitur klausuren eine untergeordnete Rolle. Meines Wissens sind in fünf zehn Jahren Zentralabitur in Nord rhein-Westfalen nur zweimal Ge dichte als Texte vorgelegt worden. Die meisten gängigen Oberstufen bücher enthalten nur sehr wenige Gedichte, meistens Songtexte. Wel che Bedeutung hat für Sie Lyrik im Englischunterricht der Oberstufe?

eliminieren und — warum nicht? — Louise Glück anzubieten. Die ist sprachlich sehr zugänglich und inhalt lich höchst ertragreich. Laden Sie mich ein und wir gestalten gemein sam eine Unterrichtsreihe! ? Wie nehmen Sie die Transfor mation des Englischunterrichts weg vom Literaturunterricht wahr? Ich sehe das als eine gefährliche Ver armung. Ich denke, die Literatur, auch im Fremdsprachenunterricht, bietet mindestens Dreierlei. Erstens: Ansich ten menschlicher Innenwelten. Sie hilft, uns selbst und andere zu verste hen. Zweitens: Modelle für den sub jektiven sprachlichen Ausdruck. Sich zu erklären, Gefühle, Gedanken und Worte miteinander zu verbinden, kann man gar nicht genug üben. Drit tens: ästhetische Erfahrung. Denn die ist kein Luxusgut; aus psychologi scher Sicht ist die Fähigkeit, Schönes zu erkennen, Garant für seelische Ge sundheit.

macht sie für den Unterricht eigent lich besonders dankbar. Ich finde we nig so erhellend und bereichernd wie das ‘close reading’ eines Gedichts, das langsame, präzise Lesen jeder Zeile mit der Frage im Hintergrund, auf wie viele Arten sich die Worte in ihrer Ambivalenz und Vielschichtig keit deuten lassen. Man verbindet sprachliches, intellektuelles, emotio nales und ästhetisches Lernen auf ho hem Niveau. Ich würde vorschlagen, den grässlichen ‘Lord of the Flies’ zu

INFO

Kurzbiografie Uta Gosmann, geboren 1973 in Bochum, lebt nach Stationen in Calgary, Bonn, Buffalo, Guadeloupe, Berlin, Paris, Düsseldorf (als Lehrerin am Gymnasium) und Washington D.C. seit 2008 als Lyrikerin, Übersetzerin vor allem zeitgenössischer amerikanischer Lyrik und Psycho analytikerin in New Haven in den USA. Neben Gedichten von Susan Howe oder Ellen Hinsey übersetzte sie vor allem Bücher der Nobelpreisträgerin Louise Glück (zuletzt: ‘Treue und edle Nacht’, 2023). Seit 2017 erschienen eigene Gedichte in Zeitschriften wie ‘manuskripte’ und ‘Sinn und Form’. Diese Gedichte führt nun ihr erster Gedichtband ‘Reise durchs Nimmerich’ zusammen.

Lyrik bietet in kurzer, konzentrierter Form, was an Literatur wertvoll ist. Das

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