Bildung aktuell 3/2024

Thema

setzungen konnte ich sie rege befra gen und erhielt fast immer vor Ab lauf einer Stunde Antwort. Sie liebte Rituale und plante ihr so ziales Leben oft schon Monate im voraus. Ich erinnere mich an ein Abendessen in Cambridge, das Lo kal hieß ‘The Hungry Mother’. Domi nante, gar gefräßige Mutterfiguren erscheinen in ihrem Werk überall, und so war die Wahl des Lokals si cherlich kein Zufall. Als Dichterin und Mensch hatte Glück etwas sehr Eigenwilliges und Entschlossenes und, so scheint mir, hat auf diese Weise auch das Ende bewältigt. Sie ist ja Anfang Oktober ganz plötzlich verstorben, hat nach der Krebsdiagnose nur noch wenige Tage gelebt. Sie hatte sich vorberei tet, über den Tod in ihrem Buch ‘Treue und edle Nacht’ alles gesagt. Es ist eine wunderbare Sammlung, der Finsternis hält ein Glänzen und Strahlen metaphorisch die Waage. ? Wie kamen Sie zu dem Ent schluss, selbst Gedichte zu schreiben und zu veröffentlichen? Es war weniger ein Entschluss als eine innere Notwendigkeit, ein Wunsch wie ein innerer Fluss, der aber auch ständig vom Versiegen bedroht war. Ich musste Hindernisse aus dem Weg räumen und die Lyrik, diese feine Form, in meinem Leben erst stabilisieren. Ich habe mich he rangetastet, über die wissenschaftli che Arbeit, dann das Übersetzen, das Finden eines literarischen Um

Aus der Schule erinnere ich mich in Sachen Lyrik leider nur an die Dada-

Gedichte im Deutschunterricht der 8. Klasse, die mit ihrem ‘ratatatata’ die Geräusche aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs imitieren sollten. Ich brauchte den Umweg über das Englische und das Französische, um zu begreifen, was an Sprache schön sein kann und was die besondere, ja enorme Schönheit der deutschen Sprache ausmacht.

felds (mein Mann ist Professor für Li teratur, viele Freunde schreiben), schließlich meine eigene Psycho analyse. Es war ein langer Weg. ? Mit welchen Themen setzen Sie sich in Ihren Gedichten auseinander? Schwere Frage! Im weitesten Sinn treiben mich zwei Fragen an, die ei gentlich ein und dieselbe Frage sind, was Wirklichkeit ist und wer wir sind. Meinem Buch habe ich den Titel ‘Reise durchs Nimmerich’ gegeben. Das Nimmerich ist ein Nicht-mehr Ich, der Ort eines erweiterten Ichs. Hier gib es viel Platz, viel Leere, wiegt die Welt leichter, bewegen sich die Dinge durch uns hindurch, ohne sich mit uns zu verhaken, ohne uns zu beschweren. Die herkömmli

che Wirklichkeitswahrnehmung wird verunsichert: Zeit erleben wir in der tiefen Aushöhlung eines Canyons. Raben treiben nicht auf Luft, son dern Licht. Ein Kind muss erst lernen, dass der unter Wasser getauchte Fuß nicht verloren ist. Die Welt ist wie eine zu kleine Decke, mit der wir uns vergeblich versuchen zuzude cken. Verlust führt zum Gewinn einer beseelten Leere. Ein Vater kann sein verstorbenes Kind im Traum retten. Vor Zerstreuung bewahrt nur der Bau einer inneren Kammer. Das Ver blühen des Mohns setzt überra schend Licht frei. ? Wie hat Ihre Tätigkeit als Übersetzerin von Lyrik Ihr eigenes Schreiben von Gedichten beeinflusst?

.08

Made with FlippingBook - Share PDF online