Profil 9/2025

PROFIL // Begegnungen

Um ein modernes Bild des deutschen Gymnasiums bemühen sich mittlerweile mehrere renommierte Hochschullehrer. Wir stellen hier den Beitrag des Akademischen Direktors Thomas Gottfried von der Universität Augsburg vor. Inklusive Elite? Bildungswissenschaftliche Korrekturen der erfolgreichsten deutschen Schulform.

von Thomas Gottfried K aum eine andere Schulart steht so im Fokus einer kritischen Ö ff entlichkeit wie das Gymnasium. Dabei erscheint die „neue Haupt-Schule“ (SPIEGEL Nr. 18, 26. April 2025, Seite 35) nicht selten als „Problem schule“ und Inbegri ff der Inhumanität, wo knallhart nach sozialer Zugehörigkeit selektiert werde. Was stimmt nun: Kaderschmiede der gesellschaftlichen Elite oder Förderschule auch für gymnasial Unbegabte bei Einserin fl ation? Dass die Rede von der unbarmherzigen Aus leseschule ein verbandspolitisch gern gep fl eg ter Mythos ist, zeigt ein Blick auf die amtlichen Schuldaten am Beispiel Bayern: An keiner an deren Schulart gibt es mehr Heterogenität, nirgendwo mehr Inklusion als am Gymnasium. Keine Schulart hat sich im Curriculum und den Stundentafeln stärker verändert, in Didaktik und Methodik immer wieder mehr neu erfun den, musste drastischere Reformen (zum Bei spiel Dauer der Schulzeit; Ganztagsschule) über sich ergehen lassen, als das Gymnasium. An keiner anderen Schulart sind die Schülerzahlen und Schulbauten in den letzten Jahrzehnten dermaßen ex plodiert wie beim Gymnasium. Es ist nicht nur in Bayern die beliebteste aller weiterführenden Schularten: Über 324.000 Schülerinnen und Schüler haben im Schuljahr 2022/23 eines der über 430 Gymnasien besucht, davon achtzehn Prozent (über 58.000) mit Migrationshinter grund – fast ebenso viele wie an der Realschule mit zwanzig Prozent. Zum Vergleich: 216.00 Schüler besu chen 378 Realschulen, rund 200.000 Schüler werden an 948 Mittelschulen unterrichtet. Trotz der kognitiv an spruchsvollsten Übertrittsbedingungen ist das Gymnasi um also mit Abstand die am besten besuchte Schulart. Kein Wunder, dass sich die Zahl der Schulbauten von rund 300 im Schuljahr 1955/56 bis heute um ein Drittel erhöht hat.

Apropos Übertritt. Mit dem polemischen Kampfbegri ff »Grundschulabitur« wird das ach so unmenschliche Übertrittsystem völlig unbegründet di ff amiert. Auch hier sprechen die Amtlichen Schuldaten eine ganz andere Sprache: Es ist ein Mythos, dass der Übertritt zu schwer sei und die Grundschule begabte Schülerinnen und Schüler aus sozialdiskriminierenden Gründen vom Gym nasialbesuch abhielte, sonst wären sie nämlich in der

Minderheit. Im Übertrittszeugnis 2022 konn ten gut 57 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler einen Gesamtnotendurch schnitt von 2,33 oder besser erzielen und damit die Empfehlung für das Gymnasium erhalten. Der Trend ist eindeutig: Während die Gymnasialeignungen stark zunahmen, ist der Anteil an Realschul- und Mittelschul eignungen zurückgegangen. Ob das wirklich den normalverteilten Begabungspro fi len der Kinder entspricht oder nicht eher an gesun kenen Ansprüchen im Übertrittsverfahren und elterlichem Druck auf Grundschullehr kräfte liegt, die teilweise resignieren und die

Foto: Universität Augsburg

Thomas Gottfried

elterlich erwünschte Empfehlung aussprechen? Die bevorzugte Entscheidung für das Gymnasium zeigt sich auch in der Schulwahl: Zum Schuljahr 2022/23 traten in Bayern 41 Prozent der Viertklässlerinnen und Viert klässler an ein Gymnasium über, nur 29 Prozent an eine Realschule und 28 Prozent an eine Mittelschule. Zudem vertrauen die Eltern der Gymnasialempfehlung der Grundschullehrkräfte und entscheiden dennoch souve rän: Von den Kindern, die eine Gymnasialeignung erhiel ten, wechselten 2022 fast drei Viertel an ein Gymnasium. Gut ein Viertel dieser Kinder entschied sich für den Über tritt an eine Realschule. Kinder mit Realschulempfehlung bzw. Mittelschulempfehlung wechselten zu über 90 Pro zent an die empfohlene Schulart. Die Eltern wägen sehr genau ab, ob ein Gymnasialbesuch für ihr Kind trotz Empfehlung im Übertrittsgutachten wirklich sinnvoll ist.

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