Blickpunkt Schule 2/2022
Was ist zu tun? 1. An den Universitäten muss eine Deutschlehrkraft einen Lektüre- kanon absolvieren, der weniger an literaturwissenschaftlichen Trends orientiert als auf die lehrplanmäßi- gen Bedürfnisse und bildungspoliti- schen Vorgaben des Bundeslandes abgestimmt ist. In der universitären Lehre müssen wichtige Werke die- ses literarhistorischen Kanons ver- mittelt werden. Literaturdidaktik und schulischer Literaturunterricht dürfen nicht länger als Literatur- wissenschaft im Kleinformat miss- verstanden werden! 2. An den Studienseminaren muss die Vermittlung von literarhistorisch bedeutsamer Literatur im Deutsch- unterricht der Sekundarstufe I von den Lehrkräften imVorbereitungs- dienst verstärkt eingefordert wer- den. Hier ist vor allem am Selbst- verständnis der Lehrkräfte zu arbei- ten, professionelle Vermittler deutschsprachiger Literatur zu sein. 3. In der dritten Phase der Ausbildung muss das Thema ’Literatur’ in den Vordergrund gerückt werden. Fort- bildungen zur Lektüre von kanoni- scher Literatur und der Vermittlung des literarischen Kanons sollten in den Fachkollegien regelmäßig stattfinden. Und noch eine Idee zum Schluss 4. Das Kultusministeriummacht ’von oben’ einen literarischen Kanon verbindlich, zugleich aber ermög- licht es auch eine Kanonbildung ’von unten’. Beispiel Oberstufe: Pro Kurshalbjahr wird ein Werk verbind- lich vom Hessischen Kultusministe- rium vorgegeben, ein Werk (etwa zu einer Epoche oder einemThema) muss die Lehrkraft bzw. das Fach- kollegium der Schule eigenständig auswählen. Das Wichtigste aber ist, unser Selbst- verständnis als Deutschlehrer zu schärfen. Denn: Literatur zu unter- richten geht nur, wenn man selber liest!
genannten großen Werke der deut- schen Literaturgeschichte zu studie- ren. Das hat Folgen: Die junge Lehr- kraft fühlt sich schnell im Schulalltag überfordert, wenn sie sich neben den mannigfaltigen pädagogischen und schulischen Herausforderungen nun auch noch ihr völlig unbekannte lite- rarische Werke erschließen und für den Unterricht vorbereiten muss. Ent- gegen landläufigen Annahmen wer- den deshalb im Deutschunterricht der Sekundarstufe I nur noch selten lite- rarhistorisch bedeutsame oder ästhe- tisch anspruchsvolle Werke gelesen, weil sie für Schüler und Lehrer zu schwierig sind. Stattdessen greift die Lehrkraft auf das Schulbuch zurück, das häufig nicht einmal mehr ein Le- sebuch ist, sondern nur eine An- sammlung von Versatzstücken, die Epochen, Werke und Autoren absatz- weise anbietet. Noch beliebter ist es, aktuelle Jugendbücher zu lesen, mit wohlfeilen Argumenten. Allerdings ist diese vermeintlich schülerorientierte Lektüre häufig von derart zweifelhaf- ter literarisch-ästhetischer Qualität, dass schlichtweg keine Möglichkeit besteht, das zu lernen, worum es im Literaturunterricht mit Heranwach- senden geht: Identitätsfindung, Alte- ritätserfahrungen, Entwicklung von Empathie, Humanität und kritischem Weltverstehen und nicht zuletzt um ästhetische Urteilsfähigkeit. Dass es mit eindimensionalen Texten vieler sogenannter Jugendbücher unmög- lich ist, sie zu analysieren und zu in- terpretieren, weil es dort schlechter- dings nichts zu deuten und auszule- gen gibt, lässt diese Lektüreauswahl auch im Hinblick auf die Vermittlung kognitiver und sprachlicher Fähigkei- ten obsolet erscheinen. Allenfalls kann nur assoziierend etwas in den Text hineingelesen werden, was die Schülerinnen und Schüler dann auch mehr oder weniger fantasievoll tun, sodass auf diese Weise einen völlig falscher Begriff von Literatur und ihrer Interpretation in den Köpfen der Schüler entsteht. Schließlich wird es in der Sekundarstufe II nicht besser: Während die Schülerinnen und Schü- ler von den wenigen vorgegebenen
Werken der Literaturgeschichte über- fordert werden, mit denen sie nun plötzlich wie selbstverständlich kon- frontiert sind, kann sich die Lehrkraft intensiv und gezielt auf ein bis zwei Werke pro Halbjahr vorbereiten, eine Investition, die sich vermeintlicher Weise lohnt, weil der Kanon der abi- turrelevanten Lektüre jahrelang na- hezu unverändert bleibt und wenn, dann nur jeweils kleine Änderungen erfährt. In Hessen lesen Lehrer wie Schüler der Oberstufe übrigens seit mehr als fünfzehn Jahren Goethes ’Faust I’, ein Fragment von Büchner, nämlich entweder ’Woyzeck’ oder ’Lenz’, dann einen kurzen Frauenro- man von Fontane, zum Beispiel ’Irrun- gen, Wirrungen’, oder E.T.A. Hoff- manns ’Sandmann’ und schließlich ei- ne Erzählung von Kafka, entweder ’Die Verwandlung’ oder ’Das Urteil’. Das war’s. Es dürfte klar sein, dass dieses Lesepensum wenig geeignet ist, die Kulturtechnik des Lesens der jungen Abiturienten auf Hochschul- niveau zu heben. Und so beißt sich die Katze allzu schnell in den Schwanz, wenn die Abiturienten das Studium der Germanistik mit dem Ziel aufneh- men, Deutschlehrer zu werden … In der ersten Phase der Lehreraus- bildung werden zu viele Bildungs- chancen vertan. Augenscheinlich vermitteln die Universitäten weder ein praxistaugliches kanonisches Lektürewissen noch die nötigen me- thodischen Kompetenzen (das oft zi- tierte ’Handwerkszeug’ ist ja vor al- lem für Gegenwartsliteratur unab- dingbar!), Literatur selbstständig so zu erschließen, dass sie danach mit guten Erfolgen unterrichtet werden kann. Hinzu kommt, dass in der zwei- ten Phase der Lehrerausbildung die- se Defizite nicht behoben werden können. Vielmehr wird an den Studi- enseminaren davon ausgegangen, dass ein bereits voll qualifizierter Germanist nun in Fragen der Päda- gogik, Didaktik und Methodik ausge- bildet werden muss. Und schließlich fehlt es im Berufsleben an verbindli- chen Anreizen und Angeboten, sich fortzubilden, und zwar als Leser und Lehrer von Literatur.
Sprache – Bildung – Denken
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SCHULE
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