lehrernrw 3 2022
Zeitschrift des Verbandes lehrer nrw
1781 | Ausgabe 3/2022 | MAI | 66. Jahrgang
Pädagogik & Hochschul Verlag . Graf-Adolf-Straße 84 . 40210 Düsseldorf · Foto: AdobeStock
Meinungsfreiheit für Lehrkräfte: Wieviel Meinung ist erlaubt?
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28 Recht§ausleger Wieviel Meinung ist erlaubt?
3 Unter der Lupe Schulorganisation neu denken
6 Im Brennpunkt
Der schöne Schein – Die triste Wirklichkeit
Qualität im Gemeinsa- men Lernen – Standards oder fromme Wünsche?
IMPRESSUM lehrer nrw – G 1781 – erscheint sieben Mal jährlich als Zeitschrift des ‘lehrer nrw’ ISSN 2568-7751 Der Bezugspreis ist für Mitglieder des ‘lehrer nrw’ im Mitgliedsbeitrag enthal- ten. Preis für Nichtmitglieder
INHALT
UNTER DER LUPE Sven Christoffer: Schulorganisation neu denken BRENNPUNKT Sarah Wanders: Qualität im Gemeinsamen Lernen – Standards oder fromme Wünsche? JUNGE LEHRER NRW Marcel Werner: Darf’s ein bisschen mehr sein? TITEL Jochen Smets: Starke Stimme im VDR-Bundesvorstand DOSSIER Anton Huber: Der schöne Schein – Die triste Wirklichkeit Die Politische Bildung in der Schule steckt in der Krise! Bildung und Freiheit
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im Jahresabonnement: € 35,– inklusive Porto Herausgeber und Geschäftsstelle lehrer nrw e.V. Nordrhein-Westfalen, Graf-Adolf - Straße 84, 40210 Düsseldorf, Tel.: 02 11 / 1 64 09 71, Fax: 02 11 / 1 64 09 72, Web: www.lehrernrw.de Redaktion Sven Christoffer, Ulrich Gräler, Christopher Lange,
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BATTEL HILFT Was ist wirklich wichtig?
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Jochen Smets, Sarah Wanders, Marcel Werner Düsseldorf Verlag und Anzeigenverwaltung PÄDAGOGIK & HOCHSCHUL VERLAG – dphv-verlags- gesellschaft mbH, Graf-Adolf-Straße 84, 40210 Düsseldorf, Tel.: 02 11 / 3 55 81 04, Fax: 02 11 / 3 55 80 95 Zur Zeit gültig: Anzeigenpreisliste Nr. 22 vom 1. Oktober 2021 Zuschriften und Manuskripte nur an lehrer nrw ,
SERIE HAUPTSCHULEN Jochen Smets: Für jeden das Richtige SCHULE & POLITIK Ulrich Gräler: Gesunde Führung, gesunde Schule!
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FORTBILDUNGEN Suchtprävention in der Klasse
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SENIOREN Erfolgreiches IT-Seminar Ein besonderes Museum
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26 Resolution gegen Nachteile für Senioren 27 Präventionskurs: Sicher im Alltag 27 RECHT § AUSLEGER Christopher Lange: Wieviel Meinung ist erlaubt? 28 ANGESPITZT Jochen Smets: Sommer befohlen 30
Zeitschriftenredaktion, Graf-Adolf-Straße 84, 40210 Düsseldorf
HIRNJOGGING Aufgabe 1: Einkaufen
Für unverlangt eingesandte Manuskripte kann keine Ge- währ übernommen werden. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung ihrer Verfasser wieder.
Aufgabe 2: Tierische Vergleiche Aufgabe 3: Suchbild mit Hirn
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UNTER DER LUPE
Schulorganisation neu denken
Am 5. April 2022 fand im Düsseldorfer Landtag ein Werkstattgespräch der CDU-Landtagsfraktion statt. Thema war, wie Schulorganisation neu gedacht und zeitgemäß aufgestellt werden kann. lehrer nrw war im Vorfeld um einen Impulsvortrag gebeten worden.
brauchen mehr Führung und Steuerung. Kommunikationsstrukturen professionalisieren wenn diese Koordinatorinnen und Koordinatoren wiederum an der Spitze einer kleinen Steuergruppe stehen, die alle Aktivitäten und Anstrengungen der Schule im Hinblick auf das definierte Aufgabenfeld aufeinander abstimmt und miteinander in Einklang bringt. Dass diese Neustrukturierung zu einer nicht unerheblichen Ausweitung an Funktionsstellen füh- ren würde, ist evident. Hier sind wir wieder beim Ausgangspunkt meiner These: Zeitgemäße Schulor- ganisation und fortschrittliche Schulentwicklung Schulorganisation und Schulentwicklung brauchen professionelle Kommunikationsstrukturen. In den letzten Jahren ist die Schule nicht nur mit einer Viel- zahl von neuen Aufgaben konfrontiert worden, sie hatte auch eine Vielzahl neuer Professionen zu inte- grieren. Die traditionelle Schule, in der der Bildungs- und Erziehungsauftrag ausschließlich von Lehrkräf- ten wahrgenommen wurde, existiert nicht mehr. Heute finden wir an unseren Schulen neben der ’klassischen’ Lehrkraft die Sonderpädagogin und den Sonderpädagogen, die Sozialarbeiterin und den Sozialarbeiter, die Diplompädagogin und den Diplompädagogen, die Sozialpädagogin und den Sozialpädagogen, die Erzieherin und den Erzieher, die Handwerksmeisterin und den Handwerksmeister sowie die Integrationshelferin und den Integrations- helfer. Zum Ausdruck gebracht wird diese neue Viel- falt durch den Begriff der multiprofessionellen Teams, der an unseren Schulen längst etabliert ist. Wenn unterschiedliche Professionen in einer Institu- tion zusammenwirken und die Aufgaben teilweise überlappend sind, braucht es Kollaboration. Kollabo- ration wiederum kann ohne etablierte Kommunikati- onsstrukturen nicht gelingen. Und hier sehe ich eine der zentralen Organisationsherausforderungen
von SVEN CHRISTOFFER
D ieser Bitte bin ich sehr gerne nachgekom- men, ermöglichte sie es mir doch, der trüben Schulgegenwart für ein paar Stunden zu ent- fliehen. Dabei habe ich mich bemüht, möglichst kon- krete Punkte zu benennen, die bei entsprechendem Willen zeitnah umgesetzt werden könnten. Führung ausweiten Schulorganisation und Schulentwicklung brauchen Führung und Steuerung. Schulen sind Systeme mit einer extrem flachen Hierarchie, dies gilt insbeson- dere für kleine Systeme wie Grund- und Förderschu- len, aber auch für Haupt- und Realschulen. Ein Ver- gleich mit der Privatwirtschaft macht das deutlich: Ich kenne kein Unternehmen, das über fünfzig, sech- zig oder siebzig Mitarbeitende verfügt, von denen sich nur drei in einer herausgehobenen Funktion mit besonderen Aufgaben und Befugnissen befinden, während alle anderen Mitarbeitenden auf einer Ebe- ne angesiedelt sind. Um es in ein anschauliches Bild zu kleiden: Eine Armee, die ausschließlich aus Gene- rälen und Fußsoldaten besteht, wird schwerlich er- folgreich sein! In den letzten Jahren ist die Anzahl der Aufgaben, die Schule zu bewältigen hat, deutlich gestiegen. In- tegration, Inklusion und die digitale Transformation seien beispielhaft genannt. Die Verantwortung für diese Aufgaben muss auf mehr Schultern verteilt werden, als das heute der Fall ist. Dabei geht es um die Herausbildung größt- möglicher Expertise auf jedem einzelnen Aufgaben- feld. Deshalb braucht es als Schnittstelle zwischen Schulleitungen und Kollegium Expertinnen und Ex- perten, die als Koordinatorinnen und Koordinatoren fungieren – beispielsweise für die Inklusion oder die Digitalisierung. Für zielführend halte ich es auch,
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UNTER DER LUPE
für unsere Schulen: Dem Ausbau der Professionen muss ein adäquater Ausbau institutionalisierter Kom- munikation folgen. Warum das bisher nicht passiert ist, hängt mit dem nächsten Punkt zusammen. Systemzeit bereitstellen Dem an Schulen tätigen Personal muss eine zeitliche Ressource für innerschulische Kommunikation, Kolla- boration, Unterrichts- und Schulentwicklung sowie Konzept- und Programmarbeit zur Verfügung gestellt werden. Diese zeitliche Ressource fasse ich unter dem Begriff ’Systemzeit’. Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: Der Lockdown im März 2020 hat die Schulen aus ihrem digitalen Dornröschenschlaf geweckt. Aller-
28 Stunden unterrichten, en passant ein brillantes Konzept auflegen, selbiges implementieren, nachmit- tags das Netzwerk administrieren und abends die Endgeräte warten, funktioniert nicht. Den Kollegin- nen und Kollegen müssen zeitliche Ressourcen in Form konkreter Entlastungsstunden eingeräumt wer- den, um den digitalen Transformationsprozess ihrer Schule unter pädagogischen und didaktischen Aspek- ten voranzutreiben. Die Bewältigung administrativer sowie technisch-handwerklicher Aufgaben gehört jedoch in die Hände externen Fachpersonals. Und in dieser letzten Bemerkung ist die Überleitung zum letzten Punkt bereits angelegt. Fokussierung ermöglichen Schule muss so organisiert sein, dass das pädagogi- sche Personal sich auf das pädagogische Kernge- schäft – Unterrichten und Erziehen – fokussieren kann. Zu den Lehrerfunktionen gehören das Unter- richten, das Erziehen, das Diagnostizieren und För- dern, das Leistung messen und beurteilen, das Bera- ten, das Evaluieren, das Innovieren und Kooperieren, das Organisieren und Verwalten. Die Zunahme unter- richtsfremder Aufgaben in den letzten Jahren hat den Bereich des Organisierens und Verwaltens aufge- bläht. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass weniger Zeit für das Kerngeschäft, nämlich die sorgfältige Pla- nung, Vor- und Nachbereitung von Unterricht, übrig bleibt. Gleiches gilt für die mit Blick auf Schulorgani- sation und -entwicklung elementaren Teilbereiche In- novieren und Kooperieren. Schulen, in denen Organi- sation und Verwaltung Innovation und Kooperation erdrücken, werden nicht vorankommen! In Zeiten gravierenden Lehrkräftemangels muss die ’Ressource Lehrkraft’ deshalb fokussiert und ziel- gerichtet eingesetzt werden. Alle Aufgaben, die kei- nen pädagogischen Hintergrund haben und keinen pädagogischen Horizont erfordern, müssen so weit als möglich outgesourct werden. Die Bereiche ’Schul- verwaltungsassistenz’ und ’Systemadministration durch externes Fachpersonal’ sind hier nur zwei Bei- spiele. Unabhängig davon darf auch die Institution Schule beim Thema Entbürokratisierung nicht außen vor bleiben. Insbesondere Schulleitungen verbringen ihre Arbeit zu einem Gutteil mit der Bewältigung aufwän- diger Dokumentationspflichten. Auch hier bedarf es dringend einer Fokussierung auf das Wesentliche.
Foto: AdobeStock/Andrey Popov
Die wichtigste Ressource im System Schule sind Lehrerinnen und Lehrer. Wer gute Schule will, muss die Lehrkräfte entlasten, damit sie sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren können.
dings war das kein sanfter Weckruf. Getrieben durch die Erfordernisse des Distanzunterrichts wurden unter enor- mem Zeitdruck Lernplattformen instal- liert, Kommunikationsmöglichkeiten geschaffen und Konzepte aus dem Boden gestampft. Vor wenigen Mona-
ten hat Schulministerin Yvonne Gebauer dann die Digitalstrategie Schule NRW vorgestellt. Innerhalb von fünf Jahren werden in Nordrhein-Westfalen in das Lehren und Lernen mit digitalen Medien stolze zwei Milliarden Euro investiert. Ohne Geld ist alles nichts, aber Geld allein ist eben auch nicht alles. Ob die Digitalstrategie Schule NRW ein Erfolg wird, hängt maßgeblich von der Umset- zung vor Ort ab und von den Umsetzungsmöglichkei- ten, die man dem schulischen Personal einräumt. Die meisten Schulen sind schon jetzt personell am Limit oder darüber hinaus. Um ein sinnvolles und pädago- gisch-didaktisch passgenaues Digitalkonzept zu im- plementieren, brauchen die Schulen zeitliche Res- sourcen: Digitalisierung nebenbei geht nicht.
Sven Christoffer ist Vorsitzender des lehrer nrw sowie Vorsitzender des HPR Realschulen E-Mail: christoffer@lehrernrw.de
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BRENNPUNKT
Foto: AdobeStock/kristina rütten
Inklusion
Das System hängt: Der Inklusionsprozess kommt nicht voran, weil es in den Schulen an Personal, sonderpädagogischer Expertise und Kontinuität fehlt.
Qualität im Gemeinsamen Lernen – Standards oder fromme Wünsche?
Zu Beginn der Legislaturperiode der jetzigen Landesre- gierung herrschte Konsens zwischen allen Beteiligten, dass die Qualität der inklusiven Bildung an allgemeinen Schulen spürbar gesteigert werden müsse. Doch inzwi- schen ist Ernüchterung eingekehrt. II m Zuge der Neuausrichtung der Inklusion sollten zum einen die personellen Res- sourcen aufgestockt und gezielter einge- setzt werden. Zum anderen sollte das Ge- meinsame Lernen an Qualitätsstandards ausgerichtet sein. Das Konzept von Schwarz- Gelb klang durchaus vielversprechend: von SARAH WANDERS
mel 25 – 3 – 1,5 eingeführt. Das heißt: In einer Eingangsklasse mit 25 Schülerinnen und Schülern sollen im Durchschnitt drei Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung ler- nen. Für jede dieser Klassen erhält die Schule eine halbe zusätzliche Stelle. Gleichzeitig hat die Landesregierung konkrete Qualitätskriterien für die schuli- sche Inklusion benannt. Schulen des Ge- meinsamen Lernens müssen über ein pä- dagogisches Konzept zur inklusiven Bil- dung verfügen, eine pädagogische Konti- nuität durch Lehrkräfte für sonderpädago- gische Förderung gewährleisten, ihre Lehrerinnen und Lehrer systematisch fort- bilden sowie über die sächlichen, vor allem die räumlichen Voraussetzungen für das
klusion an den Schulen entschieden. Für die Unterstützung des Gemeinsamen Ler- nens in der Sekundarstufe I stellt die Lan- desregierung bis zum Jahr 2024/2025 min- destens 6000 Stellen mehr als die Vorgän- gerregierung zur Verfügung. Zur spürbaren Verbesserung der Qualität wird die schulische Inklusion in der Sekun- darstufe I an Schulen des Gemeinsamen Lernens gebündelt. Schrittweise aufwach- send wird an diesen Schulen das neue In- klusionskonzept nach der Berechnungsfor-
»Die Landesregierung hat sich daher für intensive zusätzliche Investitionen in die In-
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BRENNPUNKT
Gemeinsame Lernen verfügen.« (www.schulministerium.nrw/schule- bildung/bildungsthemen/inklusion) Große Hoffnung, große Ernüchterung
Schulen des Gemeinsamen Lernens, weil der Bedarf groß ist. Die Not in den Schulen wird größer
bedingungen für das Gemeinsame Lernen zu schaffen. Man habe auch seit der Neu- ausrichtung der Inklusion viele zusätzliche Stellen ins System gegeben und die Studi- enplatzkapazitäten erhöht. Leider greifen diese Maßnahmen noch nicht, und wir alle wissen, dass der Lehrkräftemangel an den Schulen der Primarstufe und der Sekundar- stufe I ohnehin enorm ist. Stellen allein sind wenig wert, wenn sie nicht besetzt werden können. Auch wenn man die Mise- re des Schulministeriums verstehen kann – Lehrkräfte kann man nicht aus dem Hut zaubern –, so darf dies trotzdem nicht zu einer weiteren Überlastung der Kollegin- nen und Kollegen vor Ort führen – und ich spreche von dem gesamten pädagogi- schen Personal. Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif Das Gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf erfordert, dass zu- nächst einmal die entsprechenden Rah- menbedingungen geschaffen werden. In- klusion zum Nulltarif, vor allem ohne son- derpädagogische Expertise an allen Schu- len, ist zum Scheitern verurteilt und wird den Schülerinnen und Schülern, die in be- sonderem Maße Unterstützung benötigen, nicht gerecht.
Die Liste der Probleme im Gemeinsamen Lernen ist sicherlich nicht abschließend. Vieles ist dem Mangel an Sonderpädago- ginnen und -pädagogen geschuldet, der sich nicht von heute auf morgen beheben lässt. Die Not der Kolleginnen und Kolle- gen vor Ort wird zunehmend größer. Dies schildern sie immer wieder zum Beispiel in den Personalversammlungen eindrücklich. Viele haben das Gefühl, unter den jetzigen Bedingungen keinem Kind mehr gerecht werden zu können, weder den Kindern und Jugendlichen ohne sonderpädagogi- schen Unterstützungsbedarf, noch denen mit Förderbedarf. Das belastet neben den ohnehin schon immensen Herausforderun- gen die Kolleginnen und Kollegen, die na- türlich jedes Kind optimal fördern wollen, massiv. Der lehrer nrw geführte Hauptpersonal- rat Realschulen hat in seiner Gemein- schaftlichen Besprechung mit Schulminis- terin Yvonne Gebauer Anfang März genau diese Probleme, Sorgen und Nöte vorgetra- gen und um Abhilfe gebeten. Falsch, Abhil- fe gefordert. Die Hausspitze versicherte, die Probleme zu kennen und auch alles zu versuchen, endlich angemessene Rahmen-
Diese Pläne hat unser Verband seinerzeit ausdrücklich begrüßt, waren schließlich mit der Setzung von Qualitätsstandards auch große Hoffnungen bei den Kollegin- nen und Kollegen vor Ort verbunden. Lei- der erreichen sowohl unseren Verband als auch die Personalräte zunehmend ernüch- ternde Rückmeldungen aus den Schulen: ■ Es gibt immer noch zu wenig sonder- pädagogische Expertise an den Schulen des Gemeinsamen Lernens, viele Stel- lenausschreibungen laufen leer. ■ MPT-Fachkräfte leisten eine gute und wertvolle Unterstützung, können aber Sonderpädagoginnen und -pädagogen nicht ersetzen. ■ Wechselnde Abordnungen von Sonder- pädagoginnen und -pädagogen bieten keine pädagogische Kontinuität, die gerade Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf dringend benötigen. ■ Die Kolleginnen und Kollegen vor Ort fühlen sich überfordert und nicht aus- reichend fortgebildet. ■ Selbst Schulen, die die Qualitätsstan- dards nicht annähernd erfüllen, werden
Sarah Wanders ist stellv. Vorsitzende des lehrer nrw E-Mail: wanders@lehrernrw.de
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JUNGE LEHRER NRW
Darf’s ein bisschen mehr sein? Eine gesunde und ausgewogene Ernährung ist nicht nur in persönlicher Hinsicht wichtig, sondern auch im Hinblick zum Beispiel auf Tierschutz und Klimaschutz. Daher sollte das Thema Ernährungs- und Verbraucherbildung auch in der Schule einen höheren Stellenwert bekommen.
Reichhaltiger Ideenpool, umfangreiche Materialsammlung Eine Hilfe, die Inhalte kreativ und fachlich korrekt zu vermitteln, bietet das Bundeszen- trum für Ernährung (BZfE). Hier finden Sie Ideen und Materialien, die zum Großteil kostenfrei zur Verfügung stehen. Das BZfE sieht seine Aufgabe darin, Akteure in diesen Settings zu unterstützen, damit Ernährungs- bildung in der Kita, Schule oder anderen Bil- dungseinrichtungen ganzheitlich gedacht und gelebt werden kann. Mit dieser Arbeit unterstützt das BZfE Schülerinnen und Schü- ler beim Erwerb von Ernährungs- und Ver- braucherbildungskompetenzen für selbstbe- stimmte, verantwortungsvolle, gesundheits- bewusste und nachhaltige Lebensstile. Sie müssen das Rad daher nicht neu er- finden, nutzen Sie einfach den Material- pool des BZfE. Ich persönlich arbeite
Apfel oder Burger? Gesunde oder ungesunde Ernäh- rung ist nicht nur eine persönliche Frage.
von MARCEL WERNER
E rnährungs- und Ver- braucherbildung ist ein Prozess, den unse- re Schülerinnen und Schüler von Geburt an durchleben. Allerdings merken wir vermehrt, dass unsere Schülerinnen und Schüler inzwischen sehr unter- schiedliche Wissensniveaus in
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sehr oft mit diesen Materialien, welche der Lehrperson einen kurzen inhaltlichen Überblick verschaffen und gleichzeitig Ideen für einen kreativen Unterricht geben. Die Ma- terialien sind sehr an-
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den lebenswichtigen Bau- steinen besitzen. Daher ist es zwingend erforderlich, dass dieser gesamte Themenbereich ver- mehrt in den schulinter- nen Lehrplänen auftaucht. Ich befürworte zwar ein ei- genständiges Fach Ernäh-
sprechend gestaltet und direkt einsetz- bar. Natürlich kön- nen sie auch nur als Impulsgeber für das Errei-
rungs- und Verbraucherbildung, gleichwohl sich die Inhalte auch sehr gut in unseren ’klassischen’ Schul- fächern widerspiegeln. Enger Bezug zur Lebenswirklichkeit
chen eines anderen Unter- richtszieles dienen. Weiterhin werden viele Methoden geliefert, die in jedes Unterrichtsfach passen. Ich nutze bei- spielsweise gerade das ’Autorenlernen’ und drehe mit meinen Schülerinnen Erklärvideos zu einem Unterrichtsinhalt.
jektwoche zu diesem Thema gestalten. Denn die Ernährungs- und Verbraucherbildung passt ideal in jedes Leitbild einer Schule und kommt sehr gut bei den Eltern unserer SchülerInnen an.
Die Ernährungs- und Verbraucherbildung er- möglicht den Kompetenzerwerb mit den In- halten und der Herkunft der Produkte, die wir essen und trinken, im Kontext sozialer Gemeinschaften und im Umgang mit Le- bensmitteln als Konsument. Dieser Lebens- weltbezug, den der gesamte Themenbereich automatisch mit sich bringt, erzeugt eine hohe Schüleraktivierung Ihres Fachunter- richtes. Natürlich können Sie auch eine Pro-
Marcel Werner ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft junge lehrer nrw E-Mail: werner@lehrernrw.de
NÜTZLICHE LINKS ■ zum Referat Ernährungsbildung: https://bzfe.de/info/ ueber-das-bzfe/referat-ernaehrungsbildung/
■ zum Unterrichtsmaterial: https://bzfe.de/bildung/unterrichtsmaterial/ ■ zu den Lehrerfortbildungen: https://bzfe.de/bildung/fortbildungen/ ■ zum Bildungsnewsletter: https://bzfe.de/bildung/bildungs-newsletter/
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101 Delegierte wählten in Mannheim den neuen Bundesvorstand des Verbandes Deutscher Realschullehrer.
Foto: lehrer nrw
Starke Stimme im VDR-Bundesvorstand Sven Christoffer und Ingo Lürbke werden die Interessen von lehrer nrw künftig auch im Bundesvorstand des Verbandes Deutscher Realschullehrer (VDR) vertreten. Beide wurden bei der VDR-Delegiertentagung mit herausragenden Ergebnissen gewählt.
tages vom 31. März bis 2. April in Mann- heim erzielten Sven Christoffer und Ingo Lürbke herausragende Ergebnisse. Als neuer stellvertretender Bundesvorsitzen- der erhielt Christoffer 99 Prozent der
lehrer nrw ist im neu gewählten Bundes- vorstand des Verbandes Deutscher Real- schullehrer (VDR) weiter mit starker Stim-
me vertreten. Bei den Vorstandswahlen anlässlich der Delegiertenversammlung des VDR im Rahmen des Bundesrealschul-
Stimmen. Als neuer Schatz- meister des VDR erreichte Lürbke 95 Pro- zent. Wie bis- her hat lehrer nrw damit zwei wichtige Pos- ten im VDR- Bundesvor- stand inne. Sven Chri- stoffer warb in seiner Vorstel- lungsrede in Mannheim für die Gleichwer- tigkeit von be- ruflicher und akademischer
Der neue geschäftsführende VDR-Bundesvorstand (v.l.): Ingo Lürbke (Schatzmeister, NRW), Sven Christoffer (stellvertretender Bundesvorsitzender, NRW), Jürgen Böhm (Bundesvorsitzender, Bayern), Bernd Bischoff (stellvertretender Bundesvorsitzender, Bayern), Waltraud Eder (Pressesprecherin, Bayern), Dirk Meußer (stellvertretender Bundes- vorsitzender, Schleswig-Holstein), Ralf Neugschwender (Geschäftsführer, Bayern). Auf dem Foto fehlt Anna Katharina Müller (Schriftführerin, Sachsen-Anhalt).
Der lehrer nrw Vorsitzende Sven Christoffer wurde in Mannheim mit 99 Prozent der Stimmen zum stellvertreten- den Bundesvorsitzenden des VDR gewählt.
Ebenso wie bei lehrer nrw bekleidet Ingo Lürbke nun auch beim VDR das Amt des Schatzmeisters.
Bildung: »Das ‘Abitur für alle‘ stößt an seine Grenzen, der Akademisierungs- wahn erhält ein Realitätsupdate«. Er plä-
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TITEL
dierte für eine Stärkung der Schulformen, die in besonderer Weise auf die Ausbil- dungsreife ihrer Schülerinnen und Schü- ler hinwirken. Viel Zuspruch für
Fotos (4x): VDR
A13-Kampagne von lehrer nrw
Auf ein sehr positives Echo unter den 101 Delegierten beim Bundesrealschultag in Mannheim stieß die von lehrer nrw gestar- tete Kampagne »Ich verdiene A13!«, die unmittelbar zuvor angelaufen war. Es sei ein unhaltbarer Zustand, dass Lehrkräfte an den Schulen der Sekundarstufe I deut- lich weniger verdienen als ihre Kolleginnen und Kollegen im Sekundarbereich II, obwohl sie gleichwertige Arbeit leisten, betonte Christoffer. Es dürfe keine Lehr- kräfte erster und zweiter Klasse geben. Der als Bundesvorsitzender des VDR im Amt bestätigte Jürgen Böhm unterstrich,
Starke Gruppe: Die Delegierten aus NRW nutzten beim Bundesrealschultag die Gelegenheit, nochmals für die lehrer nrw Kampagne »Ich verdiene A13!« zu werben.
dass der VDR die Forderung einer Ein- gangsbesoldung/-vergütung nach A13 bzw. E13 für alle grundständig ausgebilde-
ten Lehrkräfte mit Nachdruck unterstützt – auch über die Grenzen von Nordrhein- Westfalen hinaus. Jochen Smets
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TITEL
Bildung und
Vom Wert der Freiheit: Der VDR- Bundesvorsitzende Jür- gen Böhm bei seiner Rede auf dem Bundes- realschultag in Mann- heim.
Mit dem Sieg dieses Modells ende der Kampf um Anerkennung, und es entfalle das Antriebsmoment der Geschichte. Bildung, Leistung und Individualität Teilweise entfiel wohl in den letzten drei- ßig Jahren auch das Antriebsmoment zu glauben, dass zum Erhalt der Freiheit Bil- Bis 1989/1990 friedliche Revolutionen in Deutschland und Europa die Diktatoren vom Tisch wischten, und wir glaubten schon das Ende der Geschichte sei er- reicht, wie es der amerikanische Historiker Francis Fukuyama schon in dem im Som- mer 1989 veröffentlichten Artikel in der Zeitschrift ’The National Interest’ und in seinem Buch mit diesem Titel – ’The End of History and the Last Man’, 1992 behaupte- te. Fukuyama vertrat die These, dass sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der von ihr abhängigen sozialistischen Staaten bald die Prinzipien des Liberalis- mus in Form von Demokratie und Markt- wirtschaft endgültig und überall durchset- zen würden. Die Demokratie habe sich deshalb als Ordnungsmodell durchgesetzt, weil sie das menschliche Bedürfnis nach sozialer Anerkennung relativ gesehen bes- ser befriedige als alle anderen Systeme.
Freiheit Vom hohen Wert der Freiheit handelte die Rede des VDR- Vorsitzenden Jürgen Böhm beim Bundesrealschultag in Mannheim. Er betonte, dass Freiheit mehr denn je vertei- digt werden und mehr denn je Teil von Bildung sein müsse. Wir geben seine Rede hier in Auszügen wieder. M ehr Bildung! Mehr Realität! Mehr Schule! – Bereits 1950, als der erste Bundesrealschultag in
Auf der einen Seite der Weltkugel (vor dem Eisernen Vorhang) stand damals real, die Idee der Freiheit, der individuellen Ent- wicklung, der Entfaltung der Persönlichkeit – und auf der anderen Seite des Globus, die der ideologischen Vorgabe von Lebenswe- gen, der Diktatur eines scheinbaren Ideals, das die Welt vereinheitlicht, scheinbare Gleichheit vor Freiheit. Zwei Vorstellungen von Gesellschaft, Wirtschaft und Bildung standen sich 1950 unversöhnlich gegenüber.
Köln stattfand – ein Jahr nach der Grün- dung der jungen Bundesrepublik, fünf Jah- re nach der Beendigung der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und damals 1950 angekommen in der Spaltung unseres Lan- des und der Welt mit zwei konkurrierenden Gesellschaftsideen – hätte dieses Motto von 2022 bereits gepasst.
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Foto: VDR
Nein, es gibt keine minderwertigen oder zu vernachlässigende Schulabschlüsse! Nein, die Akademisierung der Gesell- schaft ist nicht die Lösung. Alle Schulabschlüsse sind wichtig Bildung steht als Begriff oder in Zusammen- setzungen fast 200 mal im Koalitionsvertrag der Ampel vom Herbst 2021 – scheinbar ist angekommen, dass wir gerade in der Bil- dung einiges versäumt haben. Wir jammern über zu lange Ausbildungszeiten, wir jam- mern über zu wenig Interesse an der dualen Berufsausbildung, jammern über den Fach- kräftemangel, fehlende Bewerber im öffent- lichen Dienst, und wir schaffen es einfach nicht, allen Jugendlichen einen qualitativen, allgemeinbildenden Schulabschluss zu er- möglichen. Und ich meine dabei alle drei Abschlüsse, die in Deutschland erreicht wer- den können – den Hauptschulabschluss, den Realschulabschluss und das Abitur! Alle drei sind wichtig – in der öffentlichen Darstel- lung kommt oft leider nur das Abitur vor. Wir haben differenzierte und berufliche Bildungswege schlecht geredet oder abqua- lifiziert – den Menschen in unserem Land wurde die Lösung aller Probleme in der Akademisierung versprochen. Die realen Zahlen sprechen eine andere Sprache. Stichwort Fachkräftemangel, Generation Praktikum, enttäuschte Jungakademiker mit unerwartet niedrigen Einkommen, babyloni- sches Studiengangwirrwarr. Wir dürfen in der Bildung keine Wege erzeugen, die von Fehlanreizen und Umwegen gekennzeich- net sind. die Freiheit von uns allen verteidigen. Am 27. Februar bezeichnete es Kanzler Scholz im Bundestag als Zeitenwende – und es darf definitiv nicht das Ende der Geschichte sein. Brauchen wir eine solche Zeitenwende nicht auch in der Bildungspolitik oder bes- ser in unserem Verständnis von Bildung? Ja, wir müssen die Bildung in unserem Land wieder an den Realitäten ausrichten! Nein, es gibt keine Königswege in der Bildung!
dung, Leistung und Individualität gehören. Sehr leichtfertig hechelte man teilweise ideologischen Bildungsphantasien hinter- her. »Abitur für alle« – titelte eine Partei zum Bundestagswahlkampf 2005. Wir konnten es uns nicht mehr vorstel- len, dass die demokratische Grundordnung in Europa jemals wieder erschüttert oder in Frage gestellt werden kann. Trotz der Balkankriege der neunziger Jahre und der zunehmenden Aggressionen autoritär ge- führter Staaten im Nahen Osten, in der Kaukasusregion und in Mittel- und Ost- asien wurden die Zeichen der Unfreiheit und Diktatur auch von uns Deutschen gern übersehen. Sicherungssysteme zur Vertei- digung unserer Freiheit, wie die Bundes- wehr, wurden vernachlässigt, und oft spiel- te die Wunschvorstellung von gefühlter Sicherheit und scheinbar unverzichtbarer wirtschaftlicher Erweiterung und Globali- sierung die entscheidende Rolle. Bis hin zur Energiepolitik verließ man sich bis zum Ende der Illusion auf lupenrei- ne Autokraten, machte gerne gute Ge- schäfte und sonnte sich in der Zufrieden- heit, ja nur von Freunden ’umzingelt’ zu sein. Nun scheint die Zeit des Imperialis- mus zurück – ’Putin-Russland’ versucht sich in der Wiederherstellung eines rus- sisch dominierten ’Neu-Sowjetreiches’,
und China steht schon in den Startlöchern zum ’Sprung’ nach Taiwan. Und die Ampel- koalition inklusive des neuen Kanzlers und der Koalitionspartner muss nun von liebge- wonnenen Narrativen in der Sicherheitspo- litik, in der Energiepolitik und auch in der Finanzpolitik Abschied nehmen. Vom Wert der Freiheit Auf die Bildung im Land wird das Auswir- kung haben. Jungen Menschen muss der Wert der Freiheit wieder klar vor Augen geführt werden, der Wert der individuellen Entwicklung – nicht die ideologisierte Gleichheit zählt, sondern Freiheit der Ent- scheidung. Hatten wir es eventuell schon vergessen oder es dem scheinbaren Luxus der globalen Märkte geopfert? Wir sind sehr brutal aufgerüttelt worden und in der harten Realität der Angriffe auf unser demokratisches System aufgewacht. Wir können nicht wegschauen, es nicht ignorieren und uns nicht freikaufen. Ange- sichts Tausender Toter, Millionen von Flüchtlingen in Europa, dem Angriff auf unser europäisches Haus mit Millionen von zerstörten Biografien müssen wir handeln und Farbe bekennen. Nicht nur in den Schulen! Wir müssen helfen – und wir wer- den helfen! Solidarität mit einem freien Land – wir müssen mit der freien Ukraine
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TITEL
Talente werden auf verschiedenen, diffe- renzierten Wegen gefördert und motiviert. Leistung muss wieder ein klares Kriterium für Bildung werden, und Leistung kann nicht einfach wegdiskutiert werden – Ab- schlüsse und Übertritte können nicht nach Quote, ohne Leistung und nur mit ’gutem Willen’ erfolgen. Wir verzeichnen zu viele Abbrüche in den akademischen Studien- gängen und in der dualen Berufsausbil- dung.
Rendite im Bildungsbereich zu sprechen und den entsprechenden Lehrkräftenach- wuchs nicht zu generieren – entsprechen- de Anreize für das Lehramt zu schaffen. Der Lehrkräftemangel trat nicht nur in der Coronakrise zu Tage – er verstärkt sich nun bei der Aufgabe, Tausende von ukraini- schen Kindern in den Schulen aufzufan- gen. Wir haben keine personellen Ressour- cen an unseren Schulen, und on top geht es einfach nicht mehr! Seit Jahren fordert
meinwesen, unsere freie Gesellschaft kaputt. Es war unverantwortlich, dass teuer bezahlte Gutachten, wie die der Bertels- mann-Stiftung mit ideologisierten Bil- dungsansätzen und falschen Anleihen an internationale Bildungsvergleiche, differen- zierte Strukturen in Deutschland verteufel- ten und den gesamten Bereich der berufli- chen Bildung einfach abqualifizierten. Bil- dungsverlierer wurden definiert, wenn ein Kind aus einer Akademikerfamilie keinen akademischen, sondern einen beruflich- fachlichen Weg einschlägt. Völlig unrealis- tisch und akademisch abgehoben. Genau das diskreditiert die Vielfalt der Bildung – erzeugt Frustrationen – und führt zu den Fehlentwicklungen wie Fach- kräftemangel, Demotivation und Qualitäts- abbau. Wir brauchen wieder klare Inhalte in der Bildung und eine Ausrichtung am realen gesellschaftlichen Leben. Neben den Kernfächern, die wir nicht verwässern oder in Kombifächern verhül- len wollen, gehören Digitalisierung, ökono- mische Bildung, die Orientierung an den technischen und wissenschaftlichen He- rausforderungen unserer Zeit zur Real- schulbildung. Als Mitbegründer und Bündnispartner des Bündnisses für Ökonomische Bildung steht der VDR klar dafür, dass jungen Men- schen ökonomische Zusammenhänge ver- mittelt werden, dass sie diese ökonomi- schen Grundlagen als Grundlagen der Frei- heit verstehen – damit sie als mündige Bürger damit umgehen können. Die Chance, Freiheit zu stärken Es wird sich zeigen, dass die Kräfte der Freiheit, der Vielfalt, der Kreativität überle- gen sind gegenüber den Despoten, Auto- kraten, Ideologen und Gleichmachern. Wir leben in einer Zeitenwende und es ist längst nicht das Ende der Geschichte – es ist eine Chance, diese Freiheit zu stärken – gerade mit den großartigen Möglichkeiten einer vielfältigen Bildung. Lassen Sie uns das gemeinsam gestalten!
Der VDR-Bundesvorsitzende Jürgen Böhm (r.) und lehrer nrw -Landeschef Sven Christoffer im Schulterschluss für eine gerechte Besoldung: Der VDR unterstützt die lehrer nrw -Kampagne ‘Ich verdiene A13!’
der VDR eine bessere Personalausstattung der Schulen mit einer integrierten Lehrer- reserve. ‘Ich verdiene A13!’ Es war und ist unverantwortlich, Lehrkräfte nicht mit der Einstiegsbesoldung A13 aus- zustatten – und wir unterstützen aus- drücklich die Initiative unseres Landesver- bandes lehrer nrw, gerade um die Ein- gangsbesoldung A13 zu kämpfen. Just in dieser Woche gehen tausende Karten mit dem Slogan ‘Ich verdiene A13!’ an die po- litisch Verantwortlichen in Nordrhein- Westfalen. Es war unverantwortlich, dass Un- ternehmensberatungen wie McKinsey in den vergangenen Jahren über die Effizienz von Schule bestimmten – Ren- diten errechneten. Wer an der Bildung spart, der spart das demokratische Ge-
Schule und Bildung
sind hoheitliche Aufgaben
Die Rahmenbedingungen an unseren Schu- len im Land müssen verbessert werden. Es ist unverantwortlich, dass die Lehrerausbil- dung ein Schattendasein an den Universitä- ten fristet und die Qualitätsoffensive Lehrer- bildung des Bundes völlig unterfinanziert ist. Es ist unverantwortlich, dass der Beam- tenstatus der Lehrkräfte so lange diskutiert werden musste, bis jetzt selbst des Land Berlin diesen wieder umsetzen muss. Ich verweise auf den Präsidenten des Bundes- verfassungsgerichtes Prof. Dr. Andreas Voß- kuhle, der bei seiner Urteilsbegründung am 18. Juni 2018 in Karlsruhe klar herausstell- te – Schule und Bildung sind eindeutig ho- heitliche Aufgaben. Es war unverantwortlich, in den vergan- genen Jahren von einer demographischen
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Informationsflut: In der modernen Medien- und Kommunikations- welt sind Menschen sehr unterschiedlichen Ein- flussfaktoren ausgesetzt. Die unüberschaubare Vielfalt verursacht Anfäl- ligkeit für ’alternative Fakten’, Manipulation und Verschwörungstheo- rien. Dies macht politi- sche Bildung in der Schu- le umso wichtiger, aber auch umso schwieriger.
Der schöne Schein – Die triste Wirklichkeit Die Politische Bildung in der Schule steckt in der Krise!
D ie Bundeszentrale für politische Bildung be- schreibt den Zustand der Politischen Bil- dung in den deutschen Schulen in ihrem In- ternetauftritt zum Thema ’Bildungsaufgabe und Schulfach’ sehr drastisch mit den Teilüberschriften: • ’Der schöne Schein: Politische Bildung als fest etablierte schulische Bildungsaufgabe’ • ’Die triste Wirklichkeit: Der Politikunterricht als randständiges Schulfach’ • ’Argumente zur Beschwichtigung: Politische Bil- dung findet doch nicht nur im Fachunterricht statt!’ (www.bpb.de/gesellschaft/bildung/politische-bildung/ 193595/bildungsaufgabe-und-schulfach?p=0) Wenngleich diese provokanten Aussagen von Dr. Joachim Detjen (Politikwissenschaftler) bereits aus dem Jahr 2015 stammen, macht die Corona-Kri- se unverblümt deutlich, dass sich in den zurücklie- genden Jahren daran nichts zum Besseren verän- dert hat. Im Gegenteil: In der Pandemie drängt sich
angesichts der Zweifler, der Negierer, der Querden- ker und Querulanten und anhaltender Demonstra- tionen, auch gegen ’Großprojekte’, immer mehr die Frage auf, ob die Politische Bildung in der Schule versagt hat und ob wir – schlimmer noch! – nicht in einer tiefen Krise der repräsentativen Demokratie selbst stecken? Blumige Prosa über Auftrag und Ziel der Politischen Bildung reicht nicht aus! Der Auftrag für die Politische Bildung in den allge- meinbildenden Schulen ist in Nuancen je nach Bundesland unterschiedlich beschrieben. Alle Be- schreibungen stützen sich auf einen Konsens, der von der KMK als ’Demokratieerziehung’ unter ’weite- re Unterrichtsinhalte’ im Bildungsauftrag zusam- mengefasst ist. Sie, die Demokratieerziehung, steht dabei eher nebensächlich bzw. gleichrangig neben Anliegen wie Berufliche Orientierung, Bildung
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hältnisse in den gut siebzig Jahren im Nachkriegs- deutschland unverzichtbar. West-Deutschland hat sich mit dem Grundgesetz von 1949 für die Herrschaftsform der repräsentativen Demokratie in Form eines parla- mentarischen Regierungssystems entscheiden. Politi- sche Entscheidungen und die Kontrolle der Exekutive (Regierung) gehen dabei nicht unmittelbar vom Volk aus, sondern von einer Volksvertretung (Parlament). Die Bevölkerung kann ihre demokratischen Rechte über die Beteiligung an Wahlen und die Mitwirkung in Parteien, Verbänden und Initiativen umsetzen – so war es ur- sprünglich gedacht. Das bedeutet: Unmittelbare Ent- scheidungsbefugnisse haben nicht die Bürger selbst, sondern die Volksvertretungen. Die repräsentative Demokratie hat in Deutschland im Vergleich eine relativ kurze Geschichte. Kaum schien sie in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gefes- tigt, geriet sie am Ende des 20. Jahrhunderts in eine ernsthafte Krise, die in der Corona-Pandemie offener als je zuvor zu Tage tritt. Jetzt in der Krisensituation zeigt sich für jedermann sichtbar, wie verletzlich die repräsen- tative Demokratie in den westlichen Staaten ist – sogar im oft gepriesenen Mutterland USA. So lässt sich für Politische Bildung, für Demokratieer- ziehung in der Schule im Jahr 2021 ein höchst diffuses Umfeld konstatieren, welches über Jahrzehnte bewusst und unbewusst geschaffen wurde. Für die repräsentati- ve Demokratie und ihre Akzeptanz sind geschürtes Misstrauen gegenüber den staatlichen Einrichtungen, schwindende Autorität staatlicher Organe, laute Rufe nach Instrumenten der direkten Demokratie und fehlen- de Akzeptanz für politische Entscheidungen (in einem demokratischen Prozess entstanden) geradezu existenz- bedrohend. Gerade in einem wie oben beschriebenen Umfeld, in welchem die Grundsätze unseres freiheitlichen Rechts- staates in Frage gestellt werden, ist Politische Bildung in der Schule zum Scheitern verurteilt. Wenn die Klarheit in der Beurteilung gesellschaftlicher Vorgänge fehlt, wenn demokratisch getroffene Entscheidungen keine Gültig- keit haben, wenn in den Medien fortlaufend vermittelt wird, man müsse den Bürger vor dem Staat schützen (nicht vor Rechtsbrechern), beispielsweise wenn Polizis- ten das Recht durchsetzen, dann ist es unmöglich, junge Menschen für den freiheitlichen demokratischen Staat zu gewinnen. Oder wie die KMK das formuliert: »Ziel der Schule ist es daher, das erforderliche Wissen zu vermit- teln, Werthaltungen und Teilhabe zu fördern sowie zur Kein gesellschaftlicher Konsens für Politische Bildung
für nachhaltige Entwicklung, Europabildung, Gesund- heitserziehung, Holocaust und Nationalsozialismus, Interkulturelle Bildung. Pädagogen fragen sich seit Jahrzehnten, ob man da- mit dem Anliegen der Politischen Bildung als zentralem Bestandteil der Allgemeinbildung mit dem Ziel, junge Menschen zu einem eigenverantwortlichen, selbstbe- stimmten Handeln zu führen, gerecht wird. Nicht wenige Pädagogen verneinen den Erfolg dieses Konzepts. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass in allen Bundeslän- dern Leitfächer für die Politische Bildung wie Geschichte, Geschichte/Sozialkunde, Geschichte/Politik/Geographie, Wirtschafts- und Sozialkunde, Wirtschaft und Recht beste- hen und eigenständige Fächer – etwa Sozialkunde – ein- gerichtet wurden, stellen Lehrkräfte immer wieder einen übergroßen Mangel an Möglichkeiten fest, dem zentra- len Anliegen der Politischen Bildung gerecht zu werden. Vor allem monieren Lehrkräfte die fehlende Unterrichts- zeit für das überaus bedeutsame Bildungsanliegen. Natürlich ist den Verantwortlichen in den Schulen be- wusst, dass die Schule nur eine Instanz politischer Sozia- lisation neben vielen anderen ist. Klar ist aber auch, dass insbesondere die Schule alle Schüler erreicht und dem Neutralitätsgebot, beschrieben im Beutelsbacher Konsens, besonders verpflichtet ist. Aber die Schule steht unter den Bedingungen der modernen Medien- und Kommunikationswelt in wachsender Konkurrenz zu vie- len anderen Einflussfaktoren (’heimliche Erzieher’) wie (soziale) Medien, aber auch zu NGOs (Non-governmen- tal organisations) u.v.m. Eine wachsende Zahl an welt- anschaulich unterschiedlich ausgerichteten Institutio- nen beeinflusst heute die politische Bildung in Deutsch- land und trägt zur politischen Willensbildung positiv wie negativ bei. Die kaum noch überschaubare Vielfalt verursacht Unsicherheit sowie Anfälligkeit für ’alternati- ve Fakten’, Manipulation und Verschwörungstheorien. Fatale Entwicklungen sind: Fundamentalopposition, linker wie rechter Extremismus, Antisemitismus oder in diesen Tagen im Sammelbecken der Corona-Leugner so genannte ’Querdenker’. Pädagogen, die sich dem sehr wichtigen Ziel der Poli- tischen Bildung bzw. der Demokratieerziehung (KMK) verpflichtet fühlen, können die in der bpb-Publikation verwendeten Ausdrücke »Der schöne Schein« – »Die triste Wirklichkeit« nur bestätigen. Die Wirklichkeit ist nicht nur trist, sie ist besorgniserregend. Die Fehlentwicklungen in der Politischen Bil- dung haben sich über Jahrzehnte angedeutet! Will man die Situation der politischen Bildung heute be- urteilen, ist ein kritischer Blick auf die politischen Ver-
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DER AUTOR
rungslosigkeit und Unsicherheit zudem durch die Gefälligkeitswissenschaft, die Politikern und Medien bzw. Meinungsmachern zuarbeitet. Eine aktuelle Analyse zum Stand der Politischen Bildung macht Mut – schreckt aber auf! Die angedeutete Krise des demokratischen Systems macht sich nicht nur in der praktischen Politik be- merkbar. Sie wird begleitet von äußerst bedenkli- chen Strömungen in der Wissenschaft. Das zeigte sich bei der Vorstellung des jüngsten vbw-Gutach- tens vom Aktionsrat Bildung am 28. März 2020. Der Präsident der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw), Wolfram Hatz, führte angesichts der Corona-Krise unter anderem aus: »Demokratien hingegen setzen in der Krise da- rauf, dass die Bürger umfassend informiert werden, Verständnis für staatliche Maßnahmen zeigen und aus Überzeugung mit den Behörden zusammenar- beiten. ■ Information statt Indoktrination, ■ Kenntnisvermittlung statt Kontrollwahn, ■ Einsicht anstatt Einschüchterung. Das ist die Devise der Demokratie! Als vbw sind wir überzeugt: Die Demokratie ist die beste politische Ordnung, um die Corona-Krise auch ökonomisch nachhaltig zu überwinden und die großen Zukunftsherausforderungen zu meistern! Auch deshalb werden wir uns weiterhin für unser demokratisch-freiheitliches System stark machen. Gerade heute zeigt sich: Wir müssen in unserer Gesellschaft ■ kritisches Denken fördern, ■ bürgerschaftliches Engagement forcieren, ■ und dazu auch die Demokratiebildung fortentwickeln. Jetzt ist die richtige Zeit dafür!« Das zehnköpfige, bundesweite Expertengremium des Aktionsrats Bildung kritisiert vor allem ein man- gelndes Demokratieverständnis sowohl bei Kindern und Jugendlichen als auch bei Erwachsenen. Das sei gefährlich, »denn die fehlende demokratische Kompetenz mache junge Menschen empfänglich für Fake-News oder populistische Parteien und The- sen von links und rechts«. Deshalb habe man sich mit der Thematik befasst und fordere einen besse- ren Politikunterricht, sowohl in der Quantität als auch in der Qualität. Für die Sekundarstufe gab der Aktionsrat folgen- de Handlungsempfehlungen:
Anton Huber war bis April 2022 stellvertretender Bundesvorsit- zender des Verbandes Deut- scher Realschullehrer und ist Ehrenvorsitzender des Bayeri- schen Realschullehrerverban- des. Als Realschullehrer und langjähriger Schulleiter war er bis 2016 im Schuldienst tätig.
Übernahme von Verantwortung und Engagement in Staat und Gesellschaft zu ermutigen und zu befä- higen.« Hinzu kommt, dass Politische Bildung in unserer demokratisch verfassten Ordnung fortwährend in die Ecke des Misstrauens gerät, weil der repräsen- tativen Demokratie als solcher tiefes Misstrauen entgegengebracht wird, besonders geschürt über Misstrauen gegenüber den Entscheidungsprozes- sen sowie gegenüber den staatlichen Institutio- nen, die für ihre Umsetzung sorgen sollen. Auch Lehrkräfte geraten zusehends in derartige Konflik- te, ohne dass ihnen der Rücken gestärkt wird (Bei- spiel: Durchsetzen der Maskenpflicht im Unter- richt). Ebenso wie Polizisten haben Lehrkräfte kaum Rückhalt bei vielen Verantwortlichen der Exekutive und schon gar nicht bei bestimmten Parteien. Immer mehr fehlt den staatlichen Ein- richtungen, ob Jugendamt, Schule, Polizei oder Kommunalverwaltung die Unterstützung dafür, dass in einem demokratischen Rechtsstaat Geset- ze auch dann vollzogen werden müssen, wenn sie den eigenen Vorstellungen widersprechen. Viel- fach bleibt es bei Lippenbekenntnissen, rechts- freie Räume (No-Go-Areas) entstehen, Clan-Krimi- nalität bleibt annähernd unbehelligt, Hausbeset- zungen, Waldbesetzungen, das Stürmen von In- dustrieanlagen, das Eindringen in fremdes Eigen- tum (zum Beispiel Tierschützer) wird nicht nur toleriert, sondern als heldenhaft dargestellt. Die schleichende ’Entmachtung’ staatlicher Einrich- tungen setzt sich weiter fort. Verschärft wird das Problem dadurch, dass die vierte Macht im Staat, die Medien, eine Machtfülle angehäuft hat, die in ihrem Ausmaß und unkontrol- lierten Einfluss von den Vätern des Grundgesetzes nicht vorhersehbar war. Die vierte (mittlerweile zen- trale) Macht im Staat bestimmt ganz massiv politi- sche Prozesse und Entscheidungen, sie bestimmt den Mainstream. Geschürt werden Skepsis, Orientie-
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Die Basis der Demokratie Dem interessierten Beobachter und Pädagogen sei hier die Frage erlaubt, ob diese Bewertung von Prof. Hanno- ver und offensichtlich des Expertengremiums insgesamt akzeptabel ist. Beruht eine Demokratie nicht gerade da- rauf, dass nicht eine jede Person für sich selbst entschei- det, was gerecht und gleich ist und was die Würde des Einzelnen ausmacht, sondern die Gesellschaft insge- samt darüber befindet? Einem Pädagogen/einer Pädagogin, welche(r) im Rahmen der Politischen Bildung für die repräsentative Demokratie mit Dreiteilung der Staatsgewalt, dem staat- lichen Gewaltmonopol, Parlamentarismus werben soll, fällt es schwer zu akzeptieren, dass bei der Vorbereitung junger Menschen für ein erfülltes Leben in unserer Ge- sellschaft die höchste Form der demokratischen Kompe- tenz in einem postkonventionellen Niveau moralischen Urteilens und Handelns liegt. Mit dieser wissenschaftli- chen Aussage stellt man das System der Demokratie, aber auch das Grundgesetz auf den Kopf. So urteilend würde auch der Sturm auf das Kapitol in Washington am Nachmittag des 6. Januar 2021 zu rechtfertigen sein. Denn wer bestimmt das postkonventionelle Niveau mo- ralischen Urteilens und Handelns? Offensichtlich nimmt der Aktionsrat Bildung hierbei – wie so viele in unserer Gesellschaft fälschlicher Weise – Bezug auf das Widerstandsrecht, welches in Artikel 20, Abs. 4 des Grundgesetzes festgeschrieben steht. Es postu- liert ein naturrechtlich gegebenes Recht jedes Men- schen, sich unter bestimmten Bedingungen gegen staat- liche Gesetze oder Maßnahmen aufzulehnen bzw. ihnen den Gehorsam zu verweigern. Aber diese Gehorsams- verweigerung hat sehr enge Grenzen und ist nur dann anzuwenden, wenn gegen die in den Absätzen 1 bis 3 beschriebene Ordnung beseitigt würde. Das ist jedoch in Deutschland bisher nie der Fall gewesen. Ja, »Die triste Wirklichkeit« der Politischen Bildung in Deutschland, in den westlichen Demokratien insgesamt, macht nachdenklich. Die Krise der Politischen Bildung ist zugleich eine Krise der Demokratie, die Herrschaftsform, die wir selbst zunehmend aushöhlen, weil vielen in Deutschland in Politik und Gesellschaft – getrieben vom Motiv der Machterhaltung oder des Machterwerbs – das Verständnis für die Grundlagen der repräsentativen De- mokratie abhandengekommen ist – leider! Anton Huber Dies ist die gekürzte Fassung eines Beitrags, der als Erst- veröffentlichung in ’Bildung real’, der Zeitschrift des Ver- bandes Deutscher Realschullehrer (VDR), erschienen ist. INFO
1. Bildung zu demokratischer Kompetenz als Schul- prinzip und als fächer-übergreifendes Prinzip. 2. Erhöhung der Qualität des Fachunterrichts. 3. Professionalisierung des Personals. 4. Etablierung eines systematischen Monitorings. Prof. Hannover beschrieb in ihren Ausführungen die ent- wicklungspsychologischen Aspekte der Förderung de- mokratischer Kompetenz. Sie führte unter anderem aus, dass demokratische Kompetenz »erst relativ spät in der Biografie eines Menschen vollständig erworben (werde)« … »Erst im Alter zwischen vier und neun Jahren können sich die Kinder mental in die Perspektive einer anderen Person hineinversetzen. Perspektivübernahme ist eine Voraussetzung demokratischer Kompetenz, denn Demo- kratie bedeutet immer, dass wir verschiedene Sichtwei- sen anerkennen und versuchen miteinander zum Aus- gleich zu bringen.« Eng verknüpft sei damit die Fähig- keit zur Empathie, »d.h. das Vermögen, die Gefühle einer anderen Person nachzuempfinden«. In der mittleren Kindheit komme, so Hannover, eine weitere Voraussetzung hinzu, nämlich moralische Urteils- und Handlungsfähigkeit. »Äußere Normen und Vorga- ben werden zu inneren Normen und Vorgaben, an de- nen die Person ihr Handeln ausrichtet und ihr Handeln bewertet.« In der späten Kindheit und im Jugendalter er- reichen die Menschen das sogenannte konventionelle Niveau moralischen Urteilens und Handelns. »Kinder und Jugendliche richten sich in dieser Altersphase nach sozialen Konventionen aus, in moralischen Konfliktsitua- tionen achten sie also darauf, was ihre soziale Gruppe meint oder was nach ihrer Auffassung in der Gesell- schaft für richtig gehalten wird.« In dieser Zeit setzt auch in der Schule der Fachunterricht in Politischer Bildung ein (7. bzw. 8. Jahrgangsstufe), das Ziel: »Vermittlung poli- tischen Wissens und dessen Berücksichtigung im eige- nen Argumentieren und Schlussfolgern. Erste Formen po- litischer Einstellungen und politisch aktiven Verhaltens entstehen.« Ein weiteres Ziel der Politischen Bildung sei es dabei aber auch, die moralische Entwicklung der jungen Leute voranzutreiben. Das ’höchste’, das sogenannte postkonventionelle Niveau moralischen Urteilens und Handelns werde, so Hannover, nur von rund dreißig Prozent der Erwachse- nen erreicht. »Die Menschen machen universell gültige Prinzipien oder Werte zur Richtschnur ihres Handelns, Beispiele sind Gerechtigkeit, Gleichheit, Würde des Ein- zelnen, also letztlich demokratische Werte.« Ein Großteil der Erwachsenen bleibe auf dem Niveau des konventio- nellen Urteilens und Handelns, das sei nach Hannover kritisch zu sehen, weil sie in moralischen Konfliktsituatio- nen ihr Verhalten an sozialen Konventionen ausrichten.
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