lehrernrw 1 2022

BATTEL HILFT

Fallvignette Der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Stefan Battel gibt in seiner Kolumne regelmäßig Antworten auf Fragen aus dem Lehrerall- tag. Diesmal geht es um die Beobachtung, dass Corona-bedingtes Distanzverhalten bei vielen Kindern schon internalisiert ist. F olgende Situation ergab sich vor wenigen Wochen in meinem Praxis- zimmer. Im Rahmen einer diagnosti- denn die Abstände ohne Corona und Ab- stand einhalten zu müssen?« Das Mäd- chen zuckte mit den Schultern und beließ die Figuren so auf dem Brett.

auch die Beobachtung, dass gerade Grundschulkinder nach meiner Einla- dung, in meinem riesengroßen Zimmer mit offenen Fenstern und mit Lüftungs- maschine die Masken doch abnehmen zu dürfen, diese einfach aufbehalten. Das ist natürlich für den therapeuti- schen/diagnostischen Prozess nicht ein- fach, da die gesamte Mimik logischer- weise zum Verständnis von emotionalen Bedürfnissen enorm wichtig ist. Im An- schluss habe ich mich gefragt, ob zu- künftige testpsychologische Untersu- chungen dahingehend geändert werden müssten, dass Bildertafeln, die spielende Kinder zeigen, diese mit Masken ausge- stattet dargestellt werden und mit ent- sprechendem Abstand. Welche Auswirkungen haben die seit zwei Jahren bestehenden Corona- maßnahmen auf das innere Weltbild? Ich werde weiterhin kritisch, zum Teil auch zornig und verzweifelt – aber im- mer voller Optimismus – auf die weitere Entwicklung schauen und Sie informie- ren.

schen Einschätzung führte ich mit einem siebenjährigen traumatisierten Mädchen eine Familienbrettaufstellung durch. Das Familienbrett dient neben einer systemi- schen diagnostischen Einschätzung bezo- gen auf die Familienstruktur auch als In- terventionsangebot im weiteren Verlauf einer Therapie. Durch die betreuende Pädagogin, die übrigens anwesend war, wusste ich im Vorfeld der Familienbrettaufstellung schon, dass die Siebenjährige trotz Fremd- unterbringung eine gute Beziehung zu ihrer Mutter und eine gute Beziehung zu ihrer älteren Schwester hat. Der Vater hat- te schon sehr lange keinen Kontakt mehr zu seiner Tochter. So hatte ich die Voran- nahme, dass das Mädchen ihre Kernfami- lie so auf das Familienbrett stellt, dass ein kurzer Abstand auf dem Familienbrett zwischen ihrer Figur und den Figuren von Mutter und Schwester bestehen würde, was oftmals emotionale Nähe ausdrückt. Nachdem das Mädchen die Figuren sorg- fältig für ihre Familienmitglieder ausge- sucht hatte, stellte sie diese auf das Brett auf. Es fiel auf, dass die Figuren rautenför- mig aufgestellt wurden. Zu meinem Er- staunen waren alle Familienmitglieder in gleichen Abständen zu der Figur des klei- nen Mädchens. Auf die Frage, ob die Ab- stände so in Ordnung sind und auch die Blickrichtung, meinte das Mädchen: »Ja, so wäre es richtig. Wir haben ja Corona und müssen Abstand halten.« Ich war zu- nächst verdutzt und versuchte noch ein- mal behutsam nachzufragen »Wie wären

Da wurde mir schlagartig klar, inwie- weit die gesellschaftlichen Maßnahmen wie Abstand halten, Maske tragen etc. scheinbar zumindest bei diesem einen ’Fall’ so internalisiert wurden, dass es ein Bewusstsein ohne diese Maßnahmen bei dem Mädchen fast nicht gab. Weiter wur- de mir schlagartig klar, dass das Mädchen diese Maßnahmen schon fast zwei Jahre in der Betrachtung ihrer Umwelt als inter- nalisierte Handlungsabläufe zeigt. Unabhängig von diesem siebenjähri- gen Mädchen mache ich zunehmend

ZUR PERSON

Dr. med. Stefan Battel ist seit 2007 niedergelassener Facharzt für Kinder- und Jugendpsychia- trie und -psychothe- rapie mit eigener Praxis in Hürth bei Köln und seit 2012 systemischer Famili- entherapeut (DGSF). Im Rahmen des lehrer nrw -Fortbil- dungsprogramms greift er in einer Vor- tragsreihe regelmä- ßig verschiedene Themen aus dem Bereich der Jugend- psychologie auf.

Foto: Andreas Endermann

Ausschließlich für Mitglieder von lehrer nrw bietet Dr. Stefan Battel einmal pro Woche eine Telefonsprechstunde an. Lehrkräfte, die Infor- mation, Rat und Hilfe im Umgang mit schwierigen Schülern oder Eltern brauchen oder selbst in einer psychisch belastenden beruflichen Situa- tion stecken, können dieses Angebot nutzen. Die Hotline ist jeden Dienstag von 15 Uhr bis 16 Uhr freigeschaltet und unter der Telefonnummer 02233 / 9610120 erreichbar.

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