lehrernrw 1 2022

Zeitschrift des Verbandes lehrer nrw

1781 | Ausgabe 1/2022 | FEBRUAR | 66. Jahrgang

Übergang Schule – Beruf Vielfältige Möglichkeiten

Pädagogik & Hochschul Verlag . Graf-Adolf-Straße 84 . 40210 Düsseldorf · Foto: AdobeStock

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28 Recht§ausleger Vom Geisterjahr- gang und Schwer- punktschulen

3 Unter der Lupe Ungeeigneter Eignungstest?

6 Im Brennpunkt Verhandlungssache

Schluss mit der Bildungs-Deform

IMPRESSUM lehrer nrw – G 1781 – erscheint sieben Mal jährlich als Zeitschrift des ‘lehrer nrw’ ISSN 2568-7751 Der Bezugspreis ist für Mitglieder des ‘lehrer nrw’ im Mitgliedsbeitrag enthal- ten. Preis für Nichtmitglieder

INHALT

UNTER DER LUPE Sven Christoffer: Ungeeigneter Eignungstest?

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MAGAZIN Es hakt bei der ökonomischen Bildung

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BRENNPUNKT Sarah Wanders: Verhandlungssache

im Jahresabonnement: € 35,– inklusive Porto Herausgeber und Geschäftsstelle lehrer nrw e.V. Nordrhein-Westfalen, Graf-Adolf - Straße 84, 40210 Düsseldorf, Tel.: 02 11 / 1 64 09 71, Fax: 02 11 / 1 64 09 72, Web: www.lehrernrw.de Redaktion Sven Christoffer, Ulrich Gräler, Christopher Lange,

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JUNGE LEHRER NRW Marcel Werner: Ohne Eltern geht es nicht – zum zweiten SERIE HAUPTSCHULEN Hauptschule Kamen: Hauptschule mit Anziehungskraft TITEL Inge Michels: Traumberufe brauchen einen Realitäts-Check DOSSIER Schluss mit der Bildungs-Deform

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Jochen Smets, Sarah Wanders, Marcel Werner Düsseldorf Verlag und Anzeigenverwaltung PÄDAGOGIK & HOCHSCHUL VERLAG – dphv-verlags- gesellschaft mbH, Graf-Adolf-Straße 84, 40210 Düsseldorf, Tel.: 02 11 / 3 55 81 04, Fax: 02 11 / 3 55 80 95 Zur Zeit gültig: Anzeigenpreisliste Nr. 22 vom 1. Oktober 2021 Zuschriften und Manuskripte nur an lehrer nrw ,

BATTEL HILFT Fallvignette

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SCHULE & POLITIK Christina Zschieschang: #Mach doch – am Sozialen Tag 2022 dbb-Jahrestagung: ‘Einfach machen’

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FORTBILDUNGEN Herr Rossi sucht das Glück KOLUMNE Neues Jahr, altes Pech?

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SENIOREN Die Schönheiten Ostfrieslands IT-Schulung für Seniorinnen und Senioren Besuch in Bielefeld Exkursion zum Gasometer ausgebucht RECHT § AUSLEGER Sebastian Potschka: Vom Geister- jahrgang und Schwerpunktschulen ANGESPITZT Jochen Smets: Kiffen gegen Corona HIRNJOGGING Aufgabe 1: Falsche Teekesselchen Aufgabe 2: Hier ist Kreativität gefragt

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Zeitschriftenredaktion, Graf-Adolf-Straße 84, 40210 Düsseldorf

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Für unverlangt eingesandte Manuskripte kann keine Ge- währ übernommen werden. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung ihrer Verfasser wieder.

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UNTER DER LUPE

Ungeeigneter Eignungstest?

Ist das Eignungsfeststellungsverfahren noch zeitgemäß? Diese Frage stellt sich zwangsläufig, wenn in Zeiten drama- tischen Schulleitermangels Kandidaten für Schulleitungsposten in einem wenig realitätsnahen Testverfahren als ungeeignet ein- gestuft werden, obwohl sie in der täglichen Praxis schon jahrelang ihre Leitungskompetenz nachgewiesen haben.

darauf, dass die Landesregierung größte Anstren- gungen unternehme, um offene Stellen schnellst- möglich zu besetzen. So hätten 2021 rund 500 Nachwuchskräfte an Verfahren zur Eignungsfest- stellung teilgenommen. Dass ein nicht geringer Teil dieser Nachwuchskräfte an der Hürde EFV (Eignungsfeststellungsverfahren) scheitert, blieb dabei unerwähnt.  Glänzend in der Praxis, ungeeignet in der Simulation Aufmerksam auf das EFV wurde ich durch zwei Gespräche im Herbst 2020. Zunächst beklagte sich ein Aufsichtsbeamter der Bezirksregierung Düsseldorf bei mir darüber, dass das pandemiebe- dingte Umstellen auf eintägige anstatt zweitägige Prüfungsverfahren zu einer extremen Verdichtung

von SVEN CHRISTOFFER

AA nfang Dezember hatten von den 4845 öf- fentlichen Schulen in Nordrhein-Westfa- len landesweit nur 90 Prozent eine Schul- leitung. Schulministerin Yvonne Gebauer verwies

Foto: AdobeStock/Erwin Wodicka

geführt habe, da zwar der Prüfungszeitraum, nicht jedoch die Inhalte gekürzt worden seien. Einige Wo- chen später erhielt ich einen Anruf eines frustrierten Ver- bandsmitgliedes, das an ei- nem dieser eintägigen Prü- fungsverfahren teilgenom-

Durchgefallen: Das Eignungsfest- stellungsverfahren scheint auch vor dem Hintergrund des Schulleiterman- gels nicht mehr zeitgemäß.

men und nicht bestanden hatte. Er hatte zu die- sem Zeitpunkt als Konrektor seine Schule schon weit mehr als ein Jahr kommissarisch geleitet und genoss aufgrund zahlreicher positiver Rückmel- dungen großen Rückhalt sowohl im Kollegium als auch in der Elternschaft. Aus seiner Sicht (die ich sehr gut nachvollziehen konnte) war es wider- sprüchlich und auch ein Stück weit demütigend, dass man in der Praxis über einen langen Zeit- raum bewiesen habe, dass man es könne, sich 

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UNTER DER LUPE

  Ist das EFV tatsächlich das Maß aller Dinge?

nun aber bei der Simulation berufsrelevanter Arbeitssituationen bescheinigen lassen müsse, dass man ungeeignet sei, weil man beispielsweise in der schriftlichen Übung ’Postkorb’ eine Reihe von Mitteilungen und einen Terminkalender nicht in der erwünschten Art und Weise bearbeitet ha- be.  Schlechtere Ergebnisse im Eintagesverfahren Diese Gespräche haben mich dazu veranlasst, das Ministerium darum zu bitten zu überprüfen, ob die Umstellung auf Eintagesverfahren im Zeit- raum Juni bis August 2020 zu signifikant schlech- teren Ergebnissen geführt hätte. Im Dezember 2020 erhielt ich die Antwort, man habe stichpro- benartig geprüft, es gäbe tatsächlich Abweichun- gen von der Norm, diese seien jedoch marginal. Exakt ein Jahr später bin ich dann in den Parla- mentspapieren des Landtags auf die Antworten der Landesregierung zu zwei Kleinen Anfragen der Fraktion der SPD gestoßen, die die Auswirkun- gen der pandemiebedingten Prüfungsbedingun- gen auf die Ergebnisse des EFV im Jahr 2020 zum Thema hatten. Die Landesregierung verwies er- neut darauf, dass sich in den insgesamt zehn ein- tägigen Verfahren bei der Durchfallquote keine merklichen Veränderungen zeigen würden, muss- te jedoch gleichzeitig einräumen, dass die ande- ren Ergebniskategorien ’deutlichere Unterschiede aufweisen’.

Unabhängig davon hat mich der Blick auf die Zahlen für die Schuljahre 2016/2017 bis 2021/2022 erschrocken. Denn Voraussetzung für die Bewerbung als Schulleiterin oder Schulleiter ist die erfolgreiche Teilnahme am EFV. Als erfolg- reich gilt die Teilnahme faktisch dann, wenn das Ergebnis ’die Leistungen übertreffen die Anforde- rungen’ oder ’die Leistungen übertreffen die An- forderungen in besonderem Maße’ lautet. Durchs Raster fallen also regelmäßig nicht nur diejeni- gen, die nicht bestehen, sondern auch diejenigen, die ’nur’ mit ’die Leistungen entsprechen die An- forderungen’ abschließen. Das sind in den Schul- jahren 2016/2017 bis 2021/2022 durchschnittlich 30,65 Prozent aller Teilnehmenden gewesen!

Schuljahr

Nicht be- standen

Die Leis- tungen entspre- chen den An- forde- rungen

Die Leis- tungen über-

Die Leis- tungen übertref- fen die Anforde- rungen in

treffen die An- forde- rungen

beson- derem Maße

2016/2017 17,03% 14,24% 40,87% 27,86% 2017/2018 21,20% 11,33% 40,72% 26,75% 2018/2019 15,74% 11,38% 45,76% 27,12% 2019/2020 20,00% 15,29% 41,18% 23,53% 2020/2021 20,70% 11,68% 42,42% 25,20% 2021/2022 15,43% 9,88% 41,98% 32,72% Ergebnisse der Eignungsfeststellungsverfahren in den Schuljahren 2016/2017 bis 2021/2022 Können wir uns solche Zahlen angesichts des oben beschriebenen Schulleitungsmangels leis- ten? Ich meine nein. Und ist es vorstellbar, dass Menschen in einer künstlichen Laborsituation ver- sagen und dennoch in der schulischen Praxis Lei- tungskompetenz Tag für Tag unter Beweis stellen? Ich meine ja. Deshalb habe ich mittlerweile auch so meine Zweifel, ob das Eignungsfeststellungs- verfahren das geeignete Instrument ist, um Eig- nung zweifelsfrei festzustellen.

Eintages- verfahren

Nicht be- standen

Die Leis- tungen entspre- chen den Anforde- rungen

Die Leis- tungen übertref- fen die Anforde- rungen

Die Leis- tungen übertref- fen die Anforde- rungen in besonde- rem Maße

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22,81% 17,54% 43,86% 15,79%

Ergebnisse der zehn eintägigen Eignungsfeststellungsverfahren im Zeitraum 4. Juni 2020 bis 28. August 2020

Die Zahlen hätten auch keine andere Interpretati- on zugelassen. Für die betroffenen Kolleginnen und Kollegen ist das eine mittelprächtige Kata- strophe und die Aussicht, die Prüfung nach einem Jahr wiederholen zu können, sicherlich nur ein schwacher Trost.

Sven Christoffer ist Vorsitzender des lehrer nrw sowie Vorsitzender des HPR Realschulen E-Mail: christoffer@lehrernrw.de

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MAGAZIN

Bei der ökono- mischen Bildung bestehen in Deutschland gravierende Defizite, mahnen BÖB und ASM.

Foto: AdobeStock/VectorMine

Es hakt bei der ökonomischen Bildung DD as Bündnis Ökonomische Bil- dung Deutschland (BÖB) und

Studie des Instituts für Öko- nomische Bildung Olden- burg im Auftrag der Floss- bach von Storch Stiftung nicht einmal fünfzig Pro- zent der Anforderungen, die man an ein Nebenfach stel- len würde, das über drei Schuljahre hinweg mit zwei Wochenstunden unterrich- tet wird. ■ Auch in der Lehrkräftebil- dung bestehen sowohl hin- sichtlich wirtschaftlicher Anteile im Studium als auch bei der Ausstattung mit fachdidaktischen Professu- ren große Defizite. Das Bündnis Ökonomische Bil- dung Deutschland und die Akti- onsgemeinschaft Soziale Markt- wirtschaft fordern im Einzelnen: 1. Ökonomische Bildung muss für alle Schülerinnen und Schüler in Deutschland in hin- reichendem Umfang und ver- pflichtend im Schulunterricht verankert werden. 2. Wirtschaftslehrkräfte müssen fachwissenschaftlich und wirtschaftsdidaktisch qualifi- ziert sein. 3. Schülerinnen und Schüler sollen Bezüge zur Arbeitswelt erleben können. 4. Deutschland braucht eine

die Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (ASM) fordern eine bessere Verankerung wirt- schaftlicher Inhalte in den weiter- führenden Schulen. Nach Auffas- sung der beiden Organisationen gefährden die bestehenden Defi- zite in der Vermittlung ökonomi- scher Zusammenhänge das Ver- ständnis der Sozialen Marktwirt- schaft – und damit der wirt- schaftlichen und gesellschaftli- chen Ordnung Deutschlands. Die derzeitigen Defizite der öko- nomischen Bildung in Deutsch- land sind nach Einschätzung des BÖB und der ASM vielfältig: ■ Jugendliche und Eltern in Deutschland bestätigen in Umfragen immer wieder, dass Wirtschaft und Finan- zen im Schulunterricht aus ihrer Sicht zu wenig Raum einnehmen. ■ Schulbuch-Analysen, unter anderem vom Institut der Deutschen Wirtschaft, sind zu dem Ergebnis gekom- men, dass ökonomische Inhalte zwar in den Lehr- plänen zu finden sind, da- rüber aber kaum Grundkennt- nisse vermittelt werden, die zu einem ausgewogenen Verständnis ökonomischer Zusammenhänge führen. ■ Elf von sechzehn Bundes- ländern erfüllen laut OeBiX-

nationale Strategie für ökonomische Bildung.

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BRENNPUNKT

Ein neuer Erlass ermöglicht im Einzelfall die Anwendung von Personalbindungs- und Perso- nalgewinnungsinstrumenten.

Verhandlungs- sache

Der Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) sieht eine Reihe von finanziellen Instrumenten zur Personalgewinnung und -bindung vor. Die Hauptpersonalräte haben hier deutliche Verbesserungen für die Beschäftigten erreicht. II n der Vergangenheit erreichten den anerkennen. Seit 2008 wurde dies im Lehr- kräftebereich großzügig gehandhabt. Mit Erlass vom 28. März 2014 wurde die Be- rücksichtigung ‘förderlicher Zeiten’ auf we- nige Beschäftigtengruppen beschränkt. Bei befristet Beschäftigten und für das sonstige (sozial)pädagogische Personal Satz 4 (förderliche Zeiten) und § 16 Abs. 5 TV-L (Zulagen) zu verzichten« (Erlass vom 3. November 2021). Somit können die per- sonalverwaltenden Stellen die tarifvertragli- chen Möglichkeiten ohne Einschränkung be- züglich der Beschäftigtengruppen – immer einzelfallbezogen – prüfen und die im TV-L vorgesehenen Instrumente nutzen. Unab- von SARAH WANDERS

Hauptpersonalrat Realschulen wie auch den Geschäftsführenden Vorstand von lehrer nrw vermehrt Anfragen bezüglich der Berücksichtigung sogenannter ‘förderlicher Zeiten’ bei der Stufenzuordnung (§16 Abs. 2 S. 4 TV-L) bzw. der Gewährung von Zula- gen (§16 Abs. 5 TV-L). Diese Vielzahl von Anfragen und Beschwerden nahm unter anderem der HPR Realschulen zum Anlass, diese Problematik mit Vertreterinnen des Schulministeriums (MSB) zu erörtern und deutliche Verbesserungen für die Beschäf- tigten zu erreichen.  Mehr Spielräume bei der Einstufung Der Arbeitgeber kann als freiwillige Leis- tung ‘förderliche Zeiten’ für die Einstufung

(§58 SchulG) sah der Erlass die Möglichkeit zur Anerkennung förderlicher Zeiten nicht vor. Dieser Erlass ist mit Ablauf des 31. De- zember 2019 wegen Zeitablaufs außer Kraft getreten. Angesichts der mehr als kri- tischen Personalsituation an Schulen stand jedoch außer Frage, dass eine weitere An- wendung der Regelungen dieses Erlasses nicht sinnvoll und zielführend ist. Aus die- sem Grund gelangte auch das NRW-Schul- ministerium zur Erkenntnis, »künftig auf er- messensleitende (und damit die Möglich- keiten des TV L teilweise einschränkende) Regelungen zu den Personalgewinnungs- und -bindungsinstrumenten des § 16 Abs. 2

 hängig davon ist nach wie vor der ’Zu- schlagserlass’ für schwer zu versorgende Schulen vom 11. Dezember 2019 gültig.  Flexibel auf die Personallage reagieren »Das bedeutet, dass die Anerkennung för- derlicher beruflicher Vorerfahrungen und damit die höhere Stufenzuordnung oder die Zahlung einer Zulage bei jeder Neueinstel- lung in ein befristetes oder unbefristetes Tarifbeschäftigungsverhältnis möglich ist, wenn die tarifvertraglichen Voraussetzun- gen vorliegen. Diese Vorgehensweise stellt

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BRENNPUNKT

Foto: AdobeStock

 nung kann dieses Instrument noch ange- wandt werden. In diesem Fall muss die Schulleitung dies bei der Bezirksregierung beantragen bzw. die Möglichkeiten prüfen lassen.  Personalbindungs- instrumente Personalgewinnungsinstrumente können auf ’Altfälle’, also Kolleginnen und Kolle- gen, die sich bereits im Dienst befinden, nicht angewandt werden, da diese Perso- nengruppe ja bereits gewonnen wurde. In diesen Fällen gibt es in ’besonders gelager- ten Einzelfällen’ die Möglichkeit, eine Zula- ge zur Personalbindung zu erhalten, immer unter der Voraussetzung, dass die Tatbe- standsvoraussetzungen der TV-L berück- sichtigt werden. »Eine Zulagengewährung zum Ausgleich einer empfundenen ’Unbil- ligkeit’ der korrekten Stufenzuordnung wä- re eine rechts- und zweckwidrige Anwen- dung der Norm und kommt daher nicht in Betracht (vgl. Kommentar Breier/Dassau Rdn. 95.10)« (Erlass vom 3. November 2021). Das bedeutet laut Aussagen aus

dem MSB konkret: Das subjektive Empfin- den, dass die Stufenzuordnung nicht richtig sei, reicht nicht aus. Der feste Wille, eine an- dere Stelle anzunehmen – sei es bei demsel- ben Arbeitgeber oder einem anderen –, muss klar erkennbar sein, zum Beispiel durch eine Bewerbung. Inwieweit ein sol- cher Vorstoß im Einzelfall von Erfolg gekrönt sein wird, kann dennoch nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden. Sie sehen: auch die Anerkennung förderli- cher Zeiten sowie die Gewährung von Zula- gen ist in einigen Fällen Verhandlungssache – natürlich immer nur in dem Rahmen, der vom TV-L gesetzt wird. Sollten Sie zu den Personen gehören, die entweder von Perso- nalgewinnungs- oder -bindungsinstrumen- ten profitieren könnten, sprechen Sie bitte rechtzeitig mit der Schulleitung, da diese dann Gespräche mit den zuständigen Be- zirksregierungen führen kann. lehrer nrw Mitglieder können natürlich auch im Vorfeld immer unsere Rechtsabteilung kontaktieren und sich beraten lassen.

sicher, dass die personalverwaltenden Stel- len im Rahmen der Rechtsanwendung flexi- bel auf quantitative und auch qualitative örtliche, schulform- oder fächerbezogene Personalmangelsituationen oder auf Verän- derungen des Arbeitsmarktes bzw. der Be- werberlage reagieren können« (Erlass vom 3. November 2021). Mit dieser Regelung erhofft sich das MSB, dass die in vielen Fällen als ungerecht empfundene Stufenfestsetzung, die auch durch fehlende Anrechnungsmöglichkeiten zu den oben genannten Beschwerden bei den Personalräten geführt hat, in Zukunft vermieden oder zumindest verbessert wer- den kann.  Personalgewinnungs- instrumente Zulagen mit dem Zweck der Personalge- winnung können bereits im Ausschrei- bungstext zu einer Stelle avisiert werden. Hierzu trifft die Schulleitung im Vorhinein eine entsprechende Vereinbarung mit der zuständigen Bezirksregierung. Auch nach erfolgter Auswahl vor Vertragsunterzeich-

Sarah Wanders ist stellv. Vorsitzende des lehrer nrw E-Mail: wanders@lehrernrw.de

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JUNGE LEHRER NRW

Foto: AdobeStock/Antonioguillem

Keine Lust? Bei Schülern, die etwas spezielle Vorstellungen der Unterrichtsge- staltung haben, braucht es klare Regeln, die allerdings auch konsequent umge- setzt werden müssen.

Ohne Eltern geht es nicht – zum zweiten.

In der letzten Ausgabe ging es an dieser Stelle um die Frage, wie mit klaren Regeln und konsequenter Umsetzung ein funktionierender Schulbetrieb erreicht werden kann. Nach- dem mich viele zustimmende, aber auch einige kritische Stimmen zu diesem Artikel er- reicht haben, bin ich zu dem Entschluss gekommen, das Thema noch einmal aufzugreifen.

nikation oder Liebe. Mit einigen konnte ich sogar ein persönliches Gespräch führen, und ich denke, dass wir gar nicht so weit auseinander sind. Dazu möchte ich Ihnen kurz in Erinnerung rufen, wie unsere Ge- wissensbildung funktioniert: In jungen Jah- ren lernen Kinder spielerisch und durch die Emotionen ihrer Eltern, was richtig und

falsch ist. Zum Beispiel bemalt das Kind mit einem Stift die Wand, die Eltern reagie- ren nicht erfreut darauf, und das Kind lernt daraus: »Mit einem Stift die Wand bema- len, nicht gut.« Ein anderes Beispiel: Das Kind geht das erste Mal aufs Töpfchen, die Folge sind glückliche Eltern, und das Kind schließt daraus: »Pippi ins Töpfchen, gut.«

von MARCEL WERNER

Z unächst einmal vielen Dank für die vielen Rückmeldungen, insbesondere die kritischen. Hier fehlte es den Kritikern in dem Artikel an einer Kultur des Lobes, Anerkennung, gewaltfreier Kommu-

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JUNGE LEHRER NRW

  Lob und Tadel als direkte Resonanz

 und besonders ihre Verpflichtung liegt. Denn letztlich funktioniert es nur gemein- sam, und in der Schule muss sich dringend etwas ändern.  Lehrer müssen richtiges Verhalten vorleben Eine Schule ohne ein erziehungstechni- sches Problem gibt es nicht. Ein solches zu leugnen oder ständig über die Situati- on zu nörgeln, macht es bloß bequem und schafft die Flucht aus der Verantwor- tung, welche wir als Pädagogen nun ein- mal haben. Für eine Verbesserung muss die einzelne Lehrperson aber auch bereit versagt, auch dies möchte ich Ihnen an einer von vielen Beobachtungen erläutern: Egal wie oft das Kind keine Hausaufgaben hat, zu spät im Unterricht ist oder sich schlichtweg einfach nicht an Regeln hal- ten kann, eines haben diese Kinder alle gemeinsam: Markenkleidung, Air Pods und ein aktuelles Handymodell. Gleichwohl es zu trivial ist, unser Erziehungsproblem ein- zig und allein an den Eltern und an die- sem Beispiel festzumachen, kann ich mich noch sehr gut an meine Kindheit erinnern: Durch anhaltendes Fehlverhalten wurde meine technische Ausstattung definitiv nicht besser. Ohne Eltern geht es nicht, soll es aber auch nicht gehen. Die Schule muss sie mit ins Boot holen, ihnen aber auch aufzeigen, wo ihre Verantwortung

sein, ihre persönliche pädagogische Ar- beit zu reflektieren. Denn wir Lehrerinnen und Lehrer können nur das von unseren Schülern erwarten, was wir selbst vorle- ben können. Ist das aber immer der Fall? Auch hier ein persönliches Beispiel: Meine Klasse, deren Eltern und ich einigten uns darauf, dass zukünftig Schülerinnen und Schüler, die verspätet im Unterricht er- scheinen, am Folgetag eine Stunde früher in die Schule kommen müssen. Dazu musste ich allerdings erst einmal selbst einsehen, dass ich auch nicht immer pünktlich im Unterricht erschienen bin. Was ich Ihnen damit sagen möchte, ist, dass wir Lehrkräfte bereit sein müssen, uns selbst kritisch zu reflektieren und mit diesen Erkenntnissen gemeinsame Kon- zepte entwickeln, die nicht in einer Schublade verschwinden.  Wie Schule gelingen kann Abschließend lässt sich festhalten, dass Schule nur gelingen kann, wenn die Schul- gemeinschaft zusammenarbeitet und da- raus ein auf die Gemeinschaft abgestimm- tes gelebtes Konzept entsteht. Ich persön- lich bevorzuge hierbei den direkten und konsequenten Ansatz, sowohl im Lob als auch im Tadel.

Nun sind in unseren Haupt-, Real- und Ge- samtschulen aber keine Kleinkinder in den Klassen, sondern pubertierende Jugendli- che. Diese müssten normalerweise Regeln des sozialen Verhaltens nicht nur befolgen können, sondern auch einsehen und beja- hen können. Vor allem sollten sie die Fol- gen des eigenen Verhaltens vorwegneh- men können. Unsere Schülerinnen und Schüler sollten aus eigenem Antrieb erken- nen können, was Hilfsbereitschaft und Ge- rechtigkeit bedeutet. Ich könnte Ihnen auf Anhieb einige Schülerinnen und Schüler auf meiner Schule benennen, deren selbst- bestimmtes Verhalten noch nicht ausge- reift ist. Der Schulleiter Michael Rudolph, auf dessen Arbeit an einer Berliner Brenn- punktschule ich mich in dem vorigen Arti- kel beziehe, bietet hier einen Weg des di- rekten und konsequenten Handelns, in dem auch eine Kultur des Lobes ihren Platz findet. Ähnlich wie bei dem Beispiel des Kleinkindes, müssen unsere SchülerInnen Lob und Tadel direkt erfahren, nur so kön- nen sie kognitiv und emotional verstehen, welche Folgen ihr Handeln hat.  Die Eltern ins Boot holen In diesem Aspekt der Erziehung haben oft- mals die Elternhäuser unserer Schützlinge

Marcel Werner ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft junge lehrer nrw E-Mail: werner@lehrernrw.de

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Hauptschule mit Anziehungskraft

Mit einem gelebten Leitbild, einer intensiven individuellen Förderung und einem preis- gekrönten Berufsorientierungskonzept überzeugt die Hauptschule Kamen Eltern und Schüler. Der Erfolg zeigt sich nicht nur in einer sehr guten Ausbildungsvermittlungsquote. D ass die Hauptschule eine totgesagte Schulform sein soll, kann Beatrix Günnewig nicht bestätigen. Die Lei- Kamen hochinteressant. Dementsprechend pflegt die Hauptschule viele Kontakte und Kooperationen zu Betrieben in der Region.

muss sich dafür mit einem Motivations- schreiben bewerben, erklärt Beatrix Günne- wig: »Eine Chance ist das vor allem für die Schülerinnen und Schüler, die nicht die bes- ten Schulnoten haben, als Flüchtlingskinder zu uns gekommen sind oder sonderpädago- gischen Unterstützungsbedarf haben. Sie alle können ihrem zukünftigen Arbeitgeber direkt beweisen, welches Potenzial in ihnen steckt.« Nicht von ungefähr wurde diese Ini- tiative 2018 mit dem Inklusionspreis des Landes Nordrhein-Westfalen gewürdigt. Der Erfolg zeigt sich aber nicht nur an dieser be- merkenswerten Auszeichnung: Etwa sechzig Prozent der Schülerinnen und Schüler haben am Ende ihrer Hauptschulzeit einen Ausbil- dungsvertrag in der Tasche, darunter viele, die mit schlechter Prognose ihre Haupt- schullaufbahn angetreten haben. Im schul- eigenen Berufswahlorientierungsbüro (BOB) bieten die Berufseinstiegsberater/innen Kim Schlünder und Elke Geißler Unterstützung, Rat und Hilfe rund um Praktika und Berufs- wahl.  Schülerfirma produziert Seife In Zeiten des Fachkräftemangels ist dieses Konzept auch für die Wirtschaft in und um

terin der Städtischen Hauptschule Kamen stellt in den letzten Jahren vermehrt fest, dass Eltern ihre Kinder bewusst dort anmel- den. Es gibt gute Gründe für den Erfolg. Über allem steht ein klares Leitbild, das ebenso klar mit Leben gefüllt wird. Es lau- tet: »Für das Leben stärken. Fachliche und soziale Kompetenz vermitteln. Persönlichkeit entwickeln. Verantwortung geben. Zur Be- rufsfähigkeit führen.«  Praktikumsklasse ebnet Wege in den Beruf Gerade die Berufsorientierung ist eine be- sondere Stärke der Hauptschule Kamen. Seit fünf Jahren gibt es eine sogenannte Prakti- kumsklasse in der zehnten Jahrgangsstufe. Im zehnten Schuljahr öffnen sich damit zwei Wege: Die Schülerinnen und Schüler können entscheiden, ob sie den ’klassischen’ Weg gehen und in der 10A, wie üblich, zwei vier- zehntägige Praktika absolvieren oder ob sie in die Praktikumsklasse 10P wechseln und zusätzlich zu den beiden Blockpraktika ein- mal wöchentlich in ihren Praktikumsbetrieb gehen. Wer in die Praktikumsklasse möchte,

Das soziale Miteinander ist an der Hauptschule Kamen sehr ausgeprägt. Dazu tragen auch viele außerunterrichtliche Aktivitäten bei, zum Beispiel Teambuilding-Seminare.

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SERIE HAUPTSCHULEN

Kinder für das Leben stärken: Das ist Motto und Motivation der Hauptschule Kamen.

  digkeit und Selbstbewusstsein«, sagt Beatrix Günnewig. Nebenbei bemerkt: Die Industrie- und Handelskammer Dort- mund vergab dafür 2017 den ersten Preis in der Sparte Wirtschaftswissenschaft.  »Wir wollen keine strafende Schule sein« Auch nicht ganz unwichtig für den Erfolg der Hauptschule Kamen: »Wir sind eine freundliche Schule«, unterstreicht Beatrix Günnewig. Psychische und physische Ge- walt werden nicht toleriert. Es gibt einen klaren und von Schülern mitentwickelten Konsequenzen-Katalog, »aber wir wollen keine strafende Schule sein«, so die Schul- leiterin. Wer sich zum Beispiel prügelt, wird nach Hause geschickt. Einen Tag spä- ter wird das Ganze im Gespräch mit den Beteiligten und der Schulsozialarbeiterin aufgearbeitet. Das funktioniert. Gewalt ist an der Hauptschule Kamen kaum ein The- ma. 310 Kinder besuchen aktuell die Haupt- schule Kamen, 45 davon haben sonderpä- dagogischen Förderbedarf. Dank eines höchst engagierten 37-köpfigen Kollegi- ums und der guten Ausstattung in puncto Schulsozialarbeit und multiprofessionellen Teams kann die Hauptschule eine intensive individuelle Förderung sicherstellen. Krea- tivtage, künstlerische, sportliche und diver- se außerunterrichtliche Aktivitäten sorgen darüber hinaus für ein ausgeprägtes Ge- meinschaftsgefühl.  Kleines, familiäres System Auch deshalb ist die Hauptschule als Schulform unverzichtbar, betont Beatrix – eine Flüssigseife, genauer gesagt. Mög- lich macht das eine langjährige Zusammen- arbeit mit der La mer Cosmetics AG aus Cuxhaven mit Unterstützung der Kommen- de-Stiftung beneVolens (Dortmund). La mer liefert die Bestandteile des Produkts, die Schülerfirma produziert daraus die Seife und kümmert sich auch um Marketing, Werbung und Verkauf. »So lernen die Schü- lerinnen und Schüler Wirtschaftsabläufe kennen und stärken nebenbei Eigenstän-

Fotos: Hauptschule Kamen

Einen Einstieg in das Thema Berufsorientie- rung ermöglichen auch zwei Schülerfirmen. Eine managt den Schulkiosk vollkommen selbstständig – vom Ein- und Verkauf über die Personalbesetzung bis zur allgemeinen Organisation. Die zweite Schülerfirma pro- duziert und vermarktet ein Kosmetikprodukt

»Die Hauptschule ist ein kleines, familiäres System, in dem Schüler nicht in der Masse untergehen.« Beatrix Günnewig, Schulleiterin

INFO In Nordrhein-Westfalen gibt es (immer noch) 175 Hauptschulen, rund 6300 Hauptschul-Lehrkräfte und über 52 000 Hauptschüler. Und doch be- wegt sich die Hauptschule in der öf- fentlichen Wahrnehmung und beim Image unter dem Radar. Aber gerade in Zeiten, da Schlagworte wie Fach- kräftemangel, individuelle Förderung oder Integration die (schul-)politische Diskussion prägen, kann die Haupt- schule ihre Stärken ausspielen. Höchs- te Zeit also, die vermeintlich vergesse- ne Schulform wieder stärker ins öffent- liche Bewusstsein zu rücken. lehrer nrw tut dies mit einer Serie, in der wir in loser Folge Hauptschulen vorstellen, die mit innovativen Konzepten und gu- ter Arbeit erfolgreich sind. Günnewig. »Die Hauptschule ist ein kleines, familiäres System, in dem Schüler nicht in der Masse untergehen. Wenn es um indivi- duelle Förderung geht, hat die Hauptschule mehr Expertise als alle anderen Schulfor- men. Darum brauchen wir die Hauptschu- le.« Jochen Smets

Einblicke ins Berufsleben gibt es nicht nur in Praktika, sondern auch in zwei Schülerfirmen. In einer davon produzieren, ver- markten und vertreiben die Schülerinnen und Schüler eine Flüssigseife.

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TITEL

Foto: AdobeStock/Max Tactic

Traumberufe brauchen einen Realitäts-Check Wenn Praktika reihenweise ausfallen und Schnuppertage abgesagt werden, fällt es Jugendlichen besonders schwer, sich für einen Ausbildungsberuf zu entscheiden. Die Schulschließungen haben bei vielen dazu geführt, dass das Gefühl für Struktur und Lernrhythmus verloren gegangen ist. Das erschwert den Übergang in Ausbildung und Beruf zusätzlich. M ax aus der Nähe von Aachen ver- ließ nach der zehnten Klasse die Gesamtschule mit großer Vorfreu- in Aussicht gestellt bekommen hatte. Sein absoluter Traumberuf! Vorher waren zwei Praktika – eines im Rahmen der üblichen Schulpraktika und ein freiwilliges in den Fe- rien – aufgrund der Corona-Pandemie kurz- fristig abgesagt worden. Ein Teufelskreis für Max, denn sein Lieblingsausbildungsort, ein großer städtischer Zoo, nimmt nur Auszubil- dende auf, die zuvor ein mindestens dreiwö- chiges Praktikum absolviert haben. de, nachdem er in einemWildpark die Chan- ce auf einen Ausbildungsplatz als Tierpfleger

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TITEL

auf ihre berufliche Orientierung ist an einer aktuellen Studie abzulesen. In ’Jugend in Zeiten von Corona. Ergebnisse der Jugend- befragung in Rheinland-Pfalz 2021’ äußer- ten mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler (56,8 Prozent) Befürchtungen hinsichtlich der eigenen Bildungs- und Be- rufskarriere. Dies schlägt sich auch in bereits sichtbar werdenden Auswirkungen von Corona auf die schulische und berufliche Zukunft nieder. Am häufigsten wird davon berichtet, dass ein geplantes Praktikum nicht angetreten werden konnte (34,5 Prozent). Knapp jeder zehnte gab an, einen Nebenjob verloren zu

haben, weitere 8,8 Pro- zent hatten Schwierig- keiten, eine geeignete Arbeits-/Ausbildungs- stelle zu finden. Jeweils rund vier Prozent der Schülerinnen und Schü- ler konnten einen Schul- abschluss nicht errei- chen oder mussten ein Schuljahr wiederholen. Das wird in Nordrhein-

Der vermeintliche Traum- beruf kann am Praxis- schock zerschellen. So er- ging es Max, der Tierpfleger werden wollte. Sein idealisiertes Bild von dem Job stimmte allerdings nicht mit der Realität überein – auch weil geplante Praktika Pandemie-be- dingt nicht stattfinden konnten.

Westfalen nicht viel anders sein. Gerade Praktika im gesundheitlichen Bereich sind der Pandemie zum Opfer gefallen. Hand- werksbetriebe wiederum, die in Zeiten des Fachkräftemangels dringend auf Azubis an- gewiesen sind, taten alles dafür, dass auch Praktika unter Coronabedingungen möglich gemacht wurden.  Gute Erfahrungen mit Ausbildungsbotschaftern Das beobachtete zum Beispiel die Berufs- wahlkoordinatorin Elke Cornetz an der Real- schule Patternhof in Eschweiler bei Aachen. Die Lehrerin, die für das Kompetenzteam Heinsberg moderiert und Lehrkräfte zu Ko- ordinator:innen für Berufliche Orientierung ausbildet, hat an ihrer Schule gute Erfahrun- gen mit Ausbildungsbotschafterinnen und Ausbildungsbotschaftern der Industrie- und Handelskammer gemacht. Das sind Auszu- bildende aus unterschiedlichen Berufen, die Schülerinnen und Schülern Impulse für ihre berufliche Orientierung geben. Sie erzählen vor Schulklassen von ihren eigenen Ge-

den Öffentlichen Nahverkehr angeschlossen war und gerade am Ende des Arbeitstages kein Bus fuhr, damit der Sechzehnjährige Feierabend machen konnte. So verlängerte sich der Arbeitstag von Max täglich um zwei weitere Stunden. Das dem Jugendlichen we- nig entgegenkommende Betriebsklima gab Max dann den Rest.  Realitäts-Check Praktikum ist wichtig Es ist nicht selten, dass Jugendliche ihren Traumberuf idealisieren. Der Realitäts-Check im Praktikum hilft dann, sich selbst zu ver- gewissern, ob die Routinen des Alltags und die beruflichen Vorstellungen zueinander finden. Die in der Pandemie zugenommene Unsicherheit der Jugendlichen im Hinblick

 Frust statt Freude Für seine Ausbildung imWildpark musste Max von Zuhause ausziehen und in einem Landkreis knapp einhundert Kilometer ent- fernt wohnen. Ein halbes Jahr später zog der Sechzehnjährige wieder bei Eltern und Geschwistern ein – äußerst frustriert. Was war passiert? Was Max durch seine Inter- netrecherchen zwar ungefähr wusste, aber vorher nicht erleben konnte: Der direkte Kontakt zu Tieren fiel imWildpark weitaus geringer aus, als er angenommen hatte. Der Jugendliche hatte vor allem die Sauberkeit der Gehege und die Fütterungen sicherzu- stellen. Das hatte auch sein Berufsberater nicht richtig eingeschätzt. Hinzu kam, dass der ländlich gelegene Wildpark nicht gut an

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danken bei der Berufswahl und geben Ein- blicke in ihren Arbeitsalltag, in die Inhalte ihrer Ausbildung und informieren über Kar- rierechancen. »Auf Augenhöhe, das kommt gut an«, erläutert die Lehrerin und fügt hinzu: »Nichts ersetzt den persönlichen Kontakt und das Miterleben eines Arbeits- tages vor Ort, aber die jungen Leute haben während der Pandemie ihre Berufe per Film vorgestellt. Das Video eines jungen Mädchens, das sich zur Dachdeckerin aus- bilden lässt, zeigte sie hoch oben auf dem Dach eines Hauses bei der Einweisung durch ihren Ausbilder. Das war schon ein guter Film, der den Schülerinnen und Schü- lern etwas gebracht hat«, berichtet Elke Cornetz. Die engagierte Lehrerin bringt aus ihrer zehnjährigen Tätigkeit in der Industrie viel Erfahrung und vor allem Kontakte zu Fir- men mit. Vor der Pandemie organisierte sie jedes Jahr eine schulinterne Berufsmesse für ihre Schülerinnen und Schüler und er- möglichte es – zusammen mit den Koope- rationspartnern – dass sich 20 bis 25 Firmen und berufsbildende Schulen den Eltern und Schülern präsentieren konnten. Wichtige Kontakte konnten dort geknüpft werden. Und jetzt? Welche andere Mög- lichkeit der Orientierung gibt es in Zeiten der Pandemie?  Nordrhein-Westfalen: Im Rahmen der Landesinitiative ’Kein Ab- schluss ohne Anschluss (KAoA) – Über- gang Schule/Beruf in NRW’ offeriert das Land Nordrhein-Westfalen allen Schülerin- nen und Schülern der neunten und zehn- ten Klassen ein freiwilliges und kostenlo- ses Angebot zur Beruflichen Orientierung in Form eines Ferienkurses. Diese kommu- nal organisierte Möglichkeit, Kurse zur ’Beruflichen Orientierung extra’ bei einem Bildungsträger zu besuchen, bietet zum Beispiel die Stadt Mönchengladbach. Dort können Schülerinnen und Schüler prakti- sche Erfahrungen in verschiedenen Berufs- feldern sammeln. Angeboten werden unter Ferienkurse und Online- Tools zur Orientierung

Viele Praktika sind der Pandemie zum Opfer gefallen. Im Handwerk, das in Zeiten des Fachkräftemangels händeringend Nachwuchskräfte sucht, war und ist hingegen unter Coronabedingungen einiges möglich.

anderem Ferienkurse in Metall, Technik, Garten- und Landschaftsbau oder Techni- sches Produktdesign. Ansprechpartner für diese und andere Projekte zum Übergang Schule/Beruf sind die landesweiten Bil- dungsbüros, die wiederum Teil der Regio- nalen Bildungsnetzwerke sind. Mit dem neu geschaffenen BO-Tool NRW stellt das Schulministerium den Schu- len darüber hinaus ein digitales Online-In- strumentarium zur Beruflichen Orientie- rung (BO) zur Verfügung, das Materialien, Hilfen, Informationen und Angebote be- reithält. Auch der Berufswahlpass steht on- line bereit. Aber etwas anderes treibt Elke Cornetz viel mehr um: »In den vielen Wo- chen zuhause während der Lockdowns ha- ben leider viel zu viele junge Menschen Struktur, Disziplin und Respekt verloren. Es ist schwer, sie wieder einzufangen und sie an den Rhythmus der Schule und an Hausaufgaben zu gewöhnen. Dadurch wird die Eingliederung in einen Ausbil- dungsbetrieb noch einmal besonders er-

schwert«, erkennt die erfahrene Berufs- wahlkoordinatorin, die alle Schulabgänger ihrer Schule ins Berufsleben begleitet.  Neue Perspektive für Max Für Max gingen die Irrungen und Wirrun- gen dank geduldiger Eltern und entgegen- kommender Schulen vergleichsweise gut aus. Eine Gesamtschule bot ihm angesichts der guten Noten auf dem Abschlusszeug- nis an, ohne eine Wiederholung des Schul- jahres in die Oberstufe einsteigen zu kön- nen. Doch nach vielen Gesprächen mit sei- nen Eltern und gemeinsamen Beratungs- gesprächen an verschiedenen Berufskol- legs entschied er sich, das Fachabitur an einem Berufskolleg mit dem Schwerpunkt Agrarwirtschaft anzusteuern. Ob er danach ein Studium an einer Fachhochschule an- strebt oder noch einmal eine Ausbildung in Erwägung zieht, weiß er zurzeit aber noch nicht. Inge Michels für den Klett-Themendienst

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Im institutionalisierten Hamsterrad: Viele Lehrkräfte erschöpfen sich im Zustand einer Dauerreform, ohne darin einen für die Bildungsarbeit bereichernden Sinn erkennen zu können.

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Schluss mit der Bildungs-Deform In ihrem Ende 2021 veröffentlichten ’Manifest für Bildung’ skizziert die Gesellschaft für Bildung und Wissen Grundzüge einer Bildungsreform nach der Corona-Krise. lehrer nrw veröffentlicht das Manifest in zwei Teilen in dieser und der nächsten Ausgabe. Lesen Sie im Folgenden Teil 1.

D ie Corona-Pandemie zwang zu einer improvisier- ten Krisenbewältigung, mit der der Unterricht un- ter wechselnden Pandemie-Bedingungen immer wieder neu organisiert werden musste, so dass grundsätz- liche Fragen von Bildung und Bildungsreform in den Hin- tergrund zu treten schienen. Der Schein trügt jedoch, denn wie sich zeigte, gab die Krise den ’Modernisierern’ Auftrieb, die schon lange die zu geringe bzw. zu langsame Digitalisierung der deutschen Schulen beklagten, und auch die Propagandisten der so- genannten neuen Lernkultur konnten Morgenluft wittern, mutierten die Lehrkräfte doch zwangsläufig zum Lern-

coach von Schülerinnen und Schülern, denen nichts ande- res übrig blieb, als das zu tun, was die neue Lernkultur als Königsweg empfiehlt, nämlich ihren Lernprozess im Wesentlichen selbst zu steuern. Was diese Aspekte betrifft, war die Krise weniger eine Bremse, sondern eher ein Katalysator von Reformbestre- bungen, die längst vor ihr begonnen hatten. Mit ihr wur- den aber auch zugleich die Grenzen dieser hochfliegen- den Phantasien deutlich. Dies gilt vor allem für die durch keine technische Vermittlung zu ersetzende personale Be- ziehung zwischen Lehrenden und Lernenden, vor allem für schwächere Schülerinnen und Schüler ohne Unter- 

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stützung im sozialen Umfeld. Es gilt aber auch für die Digitali- sierung, deren Probleme in ihrer überhasteten Beschleunigung umso deutlicher zutage traten. Insofern gilt für uns: Nach der Krise ist vor der Krise, in die Bil- dung gerät, wenn sie weiterhin ohne pädagogische Besinnung lediglich nach den Kriterien der optimalen Steuer- und Mess- barkeit und ökonomischen Brauchbarkeit für den ’Standort Deutschland’ oder gemäß vermeintlicher ’Kinderfreundlichkeit’ reformiert wird. Angesichts dieser Fokussierung droht in Verges- senheit zu geraten, was ’Bildung’ bedeutet und welche Ziele damit verbunden waren und sind. Uns geht es darum, einen pädagogisch gehaltvollen Begriff von Bildung gegen die seit PISA auf Dauer gestellte Bildungs-Deform und die damit ausge- löste ’Bildungspanik’ stark zu machen. Das Manifest für Bildung will die Notwendigkeit wie auch Möglichkeiten aufzeigen, dem künstlich erzeugten Dauerdruck der Reform entgegenzuwirken, der Lehrerinnen und Lehrer un- ter Stress setzt, nicht nur, weil die Produktion und Verwaltung von Kennziffern einen erheblichen Teil ihrer Arbeitskraft absor- biert, sondern vor allem, weil damit ihre durch Ausbildung und zum Teil langjährige Unterrichtserfahrung erworbene Professio- nalität entwertet wird. Die Folgen davon dürften in jedem Kolle- gium zu spüren sein. Das Manifest für Bildung bietet daher nicht nur einen kriti- schen Blick auf die Reform, sondern auch Argumente, um der durch fachliche Entmündigung und systematische Überlastung erzeugten Resignation der Lehrkräfte entgegenzuwirken. Im Endeffekt ist es deren Unterrichtsexpertise, mit der die Qualität des Schulsystems steht oder fällt. Seit dem Erscheinen der ersten PISA-Studie hat die bildungshis- torisch lange Debatte um die institutionelle Struktur und curri- culare Ausrichtung der Schule in mehrfacher Hinsicht eine völ- lig neue und aus unserer Sicht problematische Entwicklung ge- nommen. 1. Mit zuvor ungekannter Geschwindigkeit wurden für das Bil- dungssystem einschneidende Reformen in verschiedenen Bereichen durchgesetzt oder zumindest angestoßen (externe Leistungsmessung, Outputorientierung, Inklusion, neue Lern- kultur etc.). 2. Ebenso einmalig ist die dabei herrschende Konzeptlosigkeit, wie die Einführung des G8 oder der Kompetenzorientierung beispielhaft zeigen. Als Grund für die Notwendigkeit des G8 wurden das angeblich zu hohe Alter deutscher Absolventen und damit vermeintlich verbundene Nachteile auf dem in- ternationalen Arbeitsmarkt angegeben. Obwohl dies nicht zu belegen war, wurde die Reform mit enormem administrati- ven und finanziellen Aufwand durchgesetzt, inzwischen aber wieder zurückgenommen. Die Kompetenzorientierung wurde als Wunderdroge gegen das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der ersten PISA-Studie gepriesen und um- gesetzt, obwohl das theoretische Konzept wie auch die da- I. Bestandsaufnahme: Die Bildungs-Deform als Dauerzustand

raus abgeleiteten Kompetenzmodelle unausgegoren waren. Ebenso wenig wurde vorher diskutiert und geklärt, inwieweit sich dies mit der bestehenden Logik des Unterrichts in Ein- klang bringen ließ und ob die Erwartung einer verbesserten Bildung berechtigt war. Viele Indizien und Argumente spre- chen inzwischen dagegen, dennoch wird bis heute an der Kompetenzorientierung festgehalten. 3. Hinter der konzeptionslosen Umsetzung lässt sich gleichwohl eine einheitliche Logik entdecken, die mit den Stichworten ’Individualisierung’ und ’Selbstoptimierung’, ’marktförmige Steuerung’ und ’funktionalisierte Bildung’ umrissen werden kann. 4. Die Geschwindigkeit, gepaart mit Konzeptionslosigkeit, führt zu dem absurden Zustand einer Dauerreform, die all jene erschöpft, die primär für die Umsetzung der Reformen in den Schulen verantwortlich sind, darin aber keinen die Bildungs- arbeit bereichernden Sinn sehen können. Sie werden dann durch Psychotechniken des ’Change-Managements’ auf Linie gebracht oder gehalten. Mit dieser Strategie wird der Wandel zum Wert an sich stilisiert. 5. Unter diesen Bedingungen hat sich auch das bildungspoliti- sche Klima verändert. Die traditionellen Fronten und damit die kontroverse Debatte über Ziele von Bildung und ihre Um- setzung verschwimmen und sind einer merkwürdigen Einhel- ligkeit zwischen Links und Rechts gewichen. Beide Lager ope- rieren mit dem gleichen Reformvokabular und konzentrieren sich auf die beiden Fragen, wie das deutsche Bildungssys- tem optimal auf die Bedingungen des globalen Marktes (Stichwort ’Sicherung des Bildungsstandorts’) eingestellt wer- den und wie man dabei möglichst alle Schülerinnen und Schüler ’mitnehmen’ kann. 6. An den Parolen und ihrer Umsetzung wird unbeirrt festgehal- ten, obwohl die mit ihnen erzeugte Deformation des öffentli- chen Bildungswesens zu inzwischen an vielen Stellen beleg- ten, auch ökonomisch relevanten Defiziten bei den Schülerin- nen und Schülern führt. Dazu trägt die Wissenschaft ihren Teil bei: Sie produziert mit der dominanten Form empirischer Bil- dungsforschung scheinbar objektive Wahrheiten, auf deren Grundlage dann bildungspolitische Entscheidungen legiti- miert werden, ohne dass man diese Art der ’Wahrheitspro- duktion’ und die Gültigkeit ihrer Ergebnisse genauer über- prüft hätte. Diese einhellig vorangetriebene Dauerreform entsorgt still- schweigend die Grundlagen und Ziele einer an Humanität, Aufklärung, Mündigkeit und gesellschaftlicher Verantwortung orientierten Bildung. Die Leistungsfähigkeit staatlicher Bil- dungsinstitutionen wird durch normative Anmaßungen inter- nationaler Organisationen sowie mancher nationaler Stiftun- gen und Verbände in Frage gestellt, die an einer pseudo-ökono- mischen Steuerung und einer schleichenden Teil-Privatisierung des Schulwesens interessiert sind und inzwischen weitgehend bestimmen, was unter ’Bildung’ zu verstehen sei, nämlich ein möglichst umfassend verwertbares ’Humankapital’. Kritische Einwände gegen diese reduzierte Form von Bildung, die inzwi-

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schen auch aus den Reihen des Mittelstandes und des Handwerks zu hören sind, werden dabei ignoriert.

schaft nicht nur an der Oberfläche für eine outputorien- tierte Steuerung des Bildungswesens sorgt, sondern auch indirekt die Normen dafür setzt, was als relevante schuli- sche Bildung zu gelten hat: Nämlich das, was sich (ver- meintlich) mit den Methoden der empirischen Wissen- schaft messen lässt. Eine ihrer Idee nach ernst genomme- ne Bildung lässt sich indes nicht messen , sehr wohl aber auf der Basis fachlicher und pädagogischer Kompetenz beurteilen . 2. Nutztier-Training Mit der momentan grassierenden Form der Kompetenzori- entierung wird schulische Bildung auf instrumentelle An- wendung und Anpassungsbereitschaft verkürzt. Natürlich ist Bildung ohne Kompetenzen nicht denkbar. Sie geht aber nicht darin auf, denn Kompetenzen sind nur isolierte Fähigkeiten, die erst dadurch sinnvoll werden, dass ein Subjekt sie in seinen Bildungsprozess integriert. Hinter den Begriffen ’Bildung’ und ’Kompetenz’ verbergen sich letzt- lich entgegengesetzte Menschenbilder. Bildung steht als Selbstzweck im Dienst der Persönlichkeitsentfaltung in de- mokratischer Verantwortung; in der gegenwärtigen Form der Kompetenzorientierung hingegen erscheint das Sub- jekt als eine Art funktionales Aggregat, das aus unverbun- denen, bei Bedarf austausch- oder ergänzbaren Fähig- keitsmodulen besteht. 3. Powerpoint-Bling-Bling Weil hartnäckig der Irrglaube verbreitet wird, man müsse nichts mehr wissen, sondern nur noch wissen, wo etwas stehe, hat sich bereits vor PISA die Tendenz breit gemacht, die Erschließung von Sachverhalten hinter das Einüben von Präsentations- und Inszenierungsmethoden zurücktre- ten zu lassen. Dies wird als eine fortschrittliche Form von Unterricht verkauft, da der angeblich autoritäre ’Frontal- unterricht’ nun von der selbstständigen Informationssuche der Schülerinnen und Schüler abgelöst werde und sie so nebenbei auch noch den Umgang mit Medien lernten. Mit dieser Idee geben jedoch die Lehrkräfte ihre pädago- gische Verantwortung für Bildungsprozesse an die Schü- lerschaft selbst ab. Das hat nichts mehr mit Mündigkeit zu tun, vielmehr riskiert man geistige Verwahrlosung, wenn man davon ausgeht, dass Google, YouTube & Co. das Verständnis schon richten werden. 4. Downsizing ist die Kehrseite des Powerpoint-Bling-Bling. Gemeint ist das Zurückschrauben verbindlicher Ansprüche sowohl an das Verstehen der Sache als auch an ein gesichertes Kön- nen, was von beiden Seiten, Lernenden wie Lehrenden, Anstrengung verlangt. Das Unterbieten dieses Anspruchs mag im System Schule noch durch großzügige Notenge- bung verdeckt werden, es rächt sich aber, sobald der Nachwuchs die Schule verlässt. Das zeigt sich exempla- risch an der wachsenden Notwendigkeit von Brücken- 

II. Gegen die Resignation Die politische Einhelligkeit und das institutionalisierte Hamsterrad der Dauerreform bringen es mit sich, dass die gegenwärtige Reform als alternativlos propagiert werden kann und auch so wahrgenommen wird, selbst von denje- nigen, die ihre Folgen auszubaden haben. Es kann dann ein Gefühl der Ohnmacht und Resignation entstehen, dem man meint, nur noch durch ’Identifikation mit dem Angreifer’, also durch Mitmachen entkommen zu können. Vor diesem Hintergrund verstehen wir dieses Manifest für Bildung nicht nur als Kritik am Hamsterrad der Reform, sondern auch als Plädoyer für eine Besinnung auf die Kernaufgabe der Schule, nämlich allgemeine Bildung, auch im Kontext der beruflichen Ausbildung. Dies bedeu- tet, den nachfolgenden Generationen Kulturtechniken, er- schließendes Weltwissen sowie Sinnorientierung und Wert- maßstäbe zu vermitteln. Nur so werden sie fähig zu eige- nen Urteilen im Kontext von Tradition und gestaltungsbe- dürftiger Zukunft. Nur so bilden sie sich zum Menschen, zum Subjekt, zur Person und zum Individuum im Horizont von Mitmenschlichkeit und Gemeinschaft. Nur so können sie schließlich als mündige Bürger Entscheidungen in ge- sellschaftlicher Verantwortung fällen. Dies ist unerlässlich, denn nicht nur die Demokratie lebt von der aktiven kriti- schen Teilhabe ihrer Bürgerinnen und Bürger, auch das kulturelle, soziale und wirtschaftliche Leben ist angewie- sen auf Persönlichkeitsbildung, Wissen und Können aller Menschen. In diesem Sinne will das Manifest für Bildung konstrukti- ve Hinweise zum Gegensteuern geben, ohne dabei in ein unreflektiertes Lob der ’guten alten Zeit’ vor der Reform zu verfallen. Professionellen Lehrkräften mögen diese Hinwei- se zum Teil trivial erscheinen, weil sie dies schon immer wussten und praktizierten. Doch genau darum geht es: die Erinnerung daran, was pädagogisch begründete und praktisch bewährte Bildungsarbeit bedeutet, die aber nur dann verwirklicht werden kann, wenn die Beteiligten ein klares Bild von der Problematik haben und sich gemein- sam entschließen, dieser Art von Reform Einhalt zu gebie- ten. Dazu bedarf es der Die gegenwärtige Reform lässt Pädagogik als Grundlage und Bildung als Ziel professionellen Lehrerhandelns ero- dieren, was sich in folgenden Fehlentwicklungen manifes- tiert: 1. Messwahn Die PISA-Studie hat eine beispiellose Messmanie ausge- löst, die mit der angemaßten Autorität empirischer Wissen- III. Kritik einer Reform, die Pädagogik und Bildung verabschiedet

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