Profil 9/2025
PROFIL // Begegnungen
Seit über zehn Jahren übersteigt die gymnasiale Über trittsquote die der Mittel- und Realschule um rund ein Viertel. Das Gymnasium ist die inklusivste aller Schul arten, trotz zunehmender Heterogenität auch bei den Lernvoraussetzungen. Diskriminierend und fachlich de plaziert ist deshalb der Begri ff »Selektion«, zudem his torisch inadäquat und respektlos gegenüber den Opfern an der Rampe von Auschwitz, wo in unbegrei fl ich furcht barer Form wirklich selektiert wurde, indem man die Menschenwürde brutal mit Füßen trat. Wie zynisch ist es dagegen, eine auf Schulleistungen gestützte objektive Auswahl als „Selektion“ zu di ff amieren! Es geht schlicht um leistungsorientierte Di ff erenzierung bei maximalem Wohlwollen. Die P fl ichtwiederholerquote wegen Nichtversetzung beträgt am Gymnasium 1,6 Prozent (2024); diese Zahl hat sich gegenüber 4,0 Prozent im Schuljahr 2009/10 mehr als halbiert. Die Abiturientenzahl am Gymnasium hat sich zwischen 1955 und 2023 von 5.700 auf über 32.000 fast versechs facht. Rund 26 Prozent der gleichaltrigen Wohnbevölke rung („Abiturientenquote“) erwarben 2023 in Bayern am Gymnasium die Allgemeine Hochschulreife – das sind um die Hälfte mehr als noch vor 15 Jahren (2005 rund 19 Prozent) – bundesweit sind es sogar 40 Prozent. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Allgemeine Hoch schulreife mit einer Eins vor dem Komma erreichen, ist ebenso wie die Abiturdurchschnittsnote seit 2006 in allen deutschen Ländern gestiegen; 2008 hatten bundesweit nur etwa 20 Prozent eine Abiturnote mit mindestens 1,9; vierzehn Jahre später waren es mit rund 40 Prozent doppelt so viel. Trotz massiver Zunahme gymnasial unbekannter Schü ler sank die Zahl der Wiederholer, erreichen die Einser abiturienten jedes Jahr neue Rekorde, gibt es immer bessere Abiturnotenschnitte und sinkt die Zahl der Durchfaller im Abitur. In immer mehr Einführungsklas sen streben Schüler mit Mittlerem Schulabschluss aus MS, RS und WS zur Allgemeinen Hochschulreife, die sie meist auch erreichen. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass nur ein bestimmter Anteil an Abiturienten wirklich hochschulreif ist, was sich in der seit Jahrzehn ten konstant hohen Zahl von Studienabbrechern aus Leistungsgründen zeigt. Ohne Kulturpessimismus und ohne Verklärung der Vergangenheit ist unbestritten: Noch nie in der Geschichte des deutschen Bildungs wesens war es so leicht, sowohl einen Hochschulzugang als auch einen Hochschulabschluss zu erreichen. Die Klagen über immer geringere Studierfähigkeit reißen nicht ab. Sie titelt die Berliner Hochschulprofessorin
Zümüt Gülbay-Peischard ihre Klageschrift mit dem har ten, aber tendenziell zutre ff enden Adjektiv „Akadämlich“ und belegt an authentischen Beispielen, „warum die an gebliche Bildungselite unsere Zukunft verspielt“ (Köln: Bastei Lübbe 2024). Das Gymnasium ist nach der PISA-Studie trotz einzig artig breiten Spektrums an unterschiedlichsten Lern voraussetzungen die erfolgreichste Schulart. Es vermit telt am meisten Kompetenzen, hat die besten High-Per former und die wenigsten Minderleister. Es ist die Loko motive des deutschen Schulsystems, obwohl die Kom petenzerwartungen massiv gesunken und die Lerninhal te deutlich zusammengeschmolzen sind: so wenig Fach wissen wie nie, so einfache Aufgabenstellungen wie nie, so viel gezielte Vorbereitung und materialgestützte Hil fen wie nie, so viel Crashkurse, Nachhilfe, Prüfungsvor bereitung, Abitrainer wie nie. Hinzu kommen Vorrücken auf Probe, Nachteilsausgleich für Handicaps wie Legas thenie, Lese-Rechtschreibschwäche, Dyskalkulie, chro nische Erkrankungen, sonderpädagogischem Förderbe darf. Notenausgleich etc. Selbst gute Mittelschüler ma chen heute Abitur. Die Ansprüche wurden maximal ge senkt, die Erleichterungen erhöht, die Ausgleichs- und Ausweichmöglichkeiten erweitert. Selbst gute Haupt schüler machen heute Abitur. Faktisch ist – auch in Bayern – das Gymnasium eine gehobene Gesamtschule. Die Gymnasiallehrer erweisen sich als die wahren För derschullehrer im Bildungssystem. Sie führen auch gym nasial minderbegabte Schülerinnen und Schüler zum Abitur. Trotz oft weit über 250 Schüler pro Vollzeitstelle widmen sie sich der inneren Di ff erenzierung, bedienen und warten digitale Geräte, nehmen Rücksicht auf Kin der mit speziellem Förderbedarf, haben die Ganztags schule umgesetzt, führen über neun Jahrgangsstufen ein umfangreiches Fahrtenprogramm durch und basteln am Schulpro fi l, weil Außenwirkung heute ein Treiber für Schulentwicklung ist. Gymnasiallehrer sind pädagogisch didaktische Multitalente. Das Meiste davon und anderes mehr leisten auch die Kollegen an den Mittelschulen, Realschulen und Wirt schaftsschulen. Dennoch stehen Gymnasiallehrer kaum im Zentrum des wertschätzenden medialen Fokus, son dern dienen als Projektions fl äche für bildungspolitische Traumtänzer oder verbandspolitische Pro fi lneurosen. Es wird Zeit, diese ideologischen Grabenkämpfe zu beenden. Das Gymnasium ist bezüglich der fachlichen Schulleistungen das Flaggschi ff des deutschen Bildungs systems und im Hinblick auf Bildungsgerechtigkeit die Inklusionsschule par exzellence.
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