Profil 9/2023

PROFIL // Demokratiebildung

36 PROFIL // 9/2023 In diesem Verständnis beruht Demo kratie auf einem einzigen Prinzip, nämlich dem der kollektiven Selbst bestimmung unter den anthropologi schen Prämissen der Freiheit und Gleichheit. Sie meint im Kern, dass die jeweilige Ordnung für alle Bür gerinnen und Bürger zustimmungs fähig ist. Nur wenn die Bedingungen des wechselseitigen Respektes als Gleiche und Freie realisiert sind, ent faltet sich aus dem Prinzip der kollek tiven Selbstbestimmung eine demo kratische Ordnung. Die Garantie indi Dieses Phänomen der gegenseitigen Di ff amierung bekommt fast alltäglich in Talkshows eine Bühne. Als Zu schauer stellt man sich dann die Fra ge: Ist das Demokratie? Tatsächlich ist ein Missverständnis weit verbreitet: Viele meinen, Demokratie sei schon dann realisiert, wenn in gewissen Ab ständen gewählt wird und die Wah len allgemein, geheim und frei sind. Das ist ein gefährlicher Irrtum. Der Begri ff der Demokratie ist bis heute schillernd. Dies hängt unter an derem damit zusammen, dass er trotz aller Kritik positiv besetzt ist und daher innerhalb eines breiten Spek trums politischer Praktiken in An spruch genommen wird. So haben sich die kommunistischen Staaten im sowjetischen Ein fl ussgebiet nach dem Zweiten Weltkrieg als »Volks demokratien« de fi niert. Selbst das Projekt des Abbaus demokratischer Rechte in Ungarn trägt den Titel »illi berale Demokratie«. Um diese Belie bigkeit der Begri ff sverwendung abzu wenden, hat sich im angelsächsi schen Diskurs der nicht unproblema tische Ausdruck »liberale Demokra tie« eingebürgert. Charakteristisch für eine Demokratie im engeren Sinn ist die Garantie der individuellen Rechte und der institu tionalisierten Solidarität in Form sozi alstaatlicher Vorkehrungen.

vidueller Rechte und Freiheiten ist also nicht eine Einschränkung der Demokratie, sondern unverzicht barer, essenzieller, ja konstitutiver Teil jeder demokratischen Ordnung. Demokratie ist demgemäß eine politi sche Ordnung, der alle zustimmen können. Voraussetzung dafür ist die prinzipielle Gleichheit und Freiheit al ler Bürgerinnen und Bürger. Konsens ist nicht das Ziel demokratischer Ent scheidungs fi ndung selbst, vielmehr beruht die demokratische Entschei dungs fi ndung auf Regeln und Institu

tionen, die diese normative Ordnung zum Ausdruck bringen. Da es bezüg lich der Regeln und Institutionen Dis sense geben kann, verlagert sich der für eine Demokratie unverzichtbare Konsens im Einzelfall auf eine höhere Ebene, wie es für Verfassungskon fl ik te charakteristisch ist, die beispiels weise durch eine Entscheidung mit verfassungsändernder Mehrheit auf gelöst werden. Somit ist es nicht die Mehrheitsmeinung, wie meist ange nommen wird, die für die Demokratie allein ausschlaggebend ist, sondern es ist dieser höhere Verfassungskon sens, der eine Demokratie trägt und in dem die Grundprinzipien der Frei heit und Gleichheit zum Ausdruck kommen. Die ethische Einsicht in die prinzipielle Freiheit und Gleichheit aller Men schen korrespondiert in der Demo kratie mit einer Zivilkultur des gegen seitigen Respektes und der Anerken nung unabhängig von kulturellen, reli giösen, herkunftsbezogenen oder le bensformgebundenen Zugehörigkei ten. Eine Gesellschaft, in der Men schen aufstehen, weil sich im Bus ne ben sie eine Person anderer Hautfar be gesetzt hat, ist nicht demokratie fähig. Demokratie ist nicht lediglich eine Staatsform, sondern eine Le bensform. Wenn die zivilkulturellen Grundlagen der Demokratie erodie ren, ist diese als Institutionengefüge bedroht. Die in der Krise steckende Demokratie kann und muss also auch aus den derzeitigen Krisen lernen. Das oberste Gebot dabei lautet: sie muss sich um die Demokratiefähigkeit der Men schen kümmern. Das schließt bei spielsweise eine Streitkultur ein, die im abendlichen Fernsehen vielfach vermisst wird. Gleichzeitig impliziert dies aber auch eine kritisch-konstruk tive Haltung zu Medien im Allgemei nen, die allein durch die Auswahl der Themen, der Akteure, der Sendezeit

Infos

Die Autoren des Textes Julian Nida Rümelin und Klaus Zierer haben im August 2023 das Buch »Demokratie in die Köpfe – Warum sich unsere Zukunft in den Schulen entschei det« verö ff entlicht. Es ist im Hirzel Verlag erschienen und kostet 26,00 Euro. PROFIL verlost drei Exemplare von »Demokratie in die Köpfe« von Ju lian Nida-Rümelin und Klaus Zierer. Zum Gewinnformular gelangen Sie über den QR-Code oder unter www.dphv.de/verlosung . Bitte tra gen Sie Ihre Daten und das Stich wort ‘Demokratie’

ein! Teilnahme schluss ist der 5. Oktober 2023. Viel Glück!

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