Profil 9/2022

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Schuld an Deutschlands Nie derlage gaben. Das waren nicht nur ein paar verspreng te Spinner und Verschwö rungstheoretiker. Es waren viele, und sie wurden immer mehr. Blumfeld, der Zionist, war der Meinung, dass Juden in Deutschland ohnehin auf Dauer nichts verloren hätten. Einstein, der Bewegliche, ein Meister der Perspektiven und der Wechsel, bezeichnete sich als Ferment dieses Abends. Seine Aufgabe war es unter anderem, die Unterhaltung im Fluss zu halten. »Wir sind gekommen, um Sie auf die Schwierigkeit ihrer eigenen Position hinzuweisen«, sagte Blumfeld. »Nach meiner Mei nung haben Sie kein Recht, als Minister des Äußeren die Angelegenheiten des deut schen Volkes zu leiten.«

Amt. Ich erfülle meine Pflicht gegenüber dem deut schen Volk, in dem ich mei ne Fähigkeiten und meine Kraft zur Verfügung stelle. Im Übrigen, was wollen Sie? Warum soll ich nicht wieder holen, was Disraeli getan hat.« Nun war es heraus. Einstein lächelte. Disraeli, Benjamin Disraeli, war in seinem Leben tat sächlich etwas wirklich Unglaubliches gelungen. Erst als Romanschriftsteller erfolgreich im England des frühen 19. Jahrhunderts, schaffte er es trotz der Dis kriminierungen gegen Juden in der britischen Politik, ins Unterhaus einzuziehen, zweimal Premierminister zu werden, schließlich von Kö nigin Viktoria geadelt zu

werden und den erblichen Titel des Earl of Beaconsfield zu erhalten. Ein großer Unterschied zwi schen Rathenau und Disraeli war, dass sich die eher prag matische englische Gesell schaft Außenseitern nicht auf Dauer verschloss, wenn sie nur Erfolg hatten. Aller dings war England im 19. Jahrhundert endgültig dabei, ein Weltreich zu be gründen, Deutschland An fang des 20. Jahrhunderts, nach einem verlorenen Ers ten Weltkrieg, drohte in Bür gerkrieg und Chaos zu zer fallen. Einstein lächelte, weil er ahnte, dass sich Rathenau mit dem Disraeli Vergleich nicht unbedingt einen Gefallen getan hatte. Blumfeld beließ es nicht bei der lächelnden Zurückhal tung.

Foto: Sigrid Rothe

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Thomas Hüetlin (61) ist Absolvent der Deutschen

Journalistenschule. Er leitete die Redaktion des Kult-Ma gazins ‘Tempo’ und war viele Jahre als Korrespondent für den Spiegel im Einsatz.

»Warum nicht?«, verteidigte sich Rathenau. »Ich bin der geeignete Mann für mein

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