Profil 9/2021

Foto: Alfred-Wegener-Institut/D’Hert Diederik

PROFIL > titel

Lebens und auch unserer eige- nen Daseinsvorsorge verbun- den. Die Weltmeere bedecken zwei Drittel der Erde und sind im Durchschnitt fast vier Kilo- meter tief. Sie nehmen neun- zig Prozent der Erwärmung der Atmosphäre auf, dreißig Pro- zent der CO 2 Emissionen, und sie erzeugen die Hälfte des Sauerstoffes, den wir atmen. Die Meere liefern einen wichti- ten wohnen oder dort Erho- lung suchen, steigt schnell. Der größte Teil der Waren und Materialien, die wir nutzen, wird über die Meere transpor- tiert, die weltvernetzenden Te- lekommunikationskabel laufen durch die Meere. Regenerative Wind- und Wasserkraft aus dem Meer wird immer wichti- ger als Energiequelle, vermut- lich müssen wir künftig immer häufiger Meerwasser entsal- zen, um Städte mit Wasser zu versorgen. Dennoch ist uns Landlebewesen das Meer weit- gehend unbekannt. Dies und anderes sind zentrale Bestand- teile vomWissen über den Ozean, sie sind anschlussfähig für viele Fächer und sowohl ak- tuelle Ereignisse und Nachrich- ten wie auch in Verknüpfung mit Literatur, Musik, Kunst. Neugierde wecken Mir scheint dabei, dass die natürlich gegebene Neugierde und Fantasie bei noch jungen Schülerinnen und Schülern es besonders einfach macht, auch eigenartige Fragen zu diskutie- ren und so auch systemisch zu lernen. Zum Beispiel habe ich gute Erfahrungen gemacht mit einer ‘Tiefsee’-Vorlesung für Kinder, bei der wir zusammen die vielfältigen Körperformen von Tiefseetieren anschauen und diskutieren, warum wir Tiere schön oder häßlich fin- den. Was es bedeutet, an die Umwelt angepasst zu sein, und nicht in eine andere Um- > gen Teil der Nahrung der Menschheit, zunehmend durch Aquakultur. Die Zahl der Menschen, die in Küstengebie-

Prof. Dr. Antje Boetius während einer Expedition 2014 vor dem Forschungsschiff ‘Polarstern’

welt versetzbar zu sein. Wa- rum manche Tiere von ande- rem Leben abhängen, zum Bei- spiel um zu leuchten im Dun- keln. Darüber kommen wir auf komplexe Themen wie Biogeo- graphie, Ökologie, Symbiose. Aber auch das Thema ‘Mensch’ – welche Emotionen für ande- res Leben haben wir und was bedeutet das? So habe ich ge- lernt bei Besuchen in der Schu- le, dass in der Vielfalt der Inte- ressen der Schülerinnen und Schüler es doch zumeist für alle etwas gibt, was sie faszi- niert. Das ist die Frage des Nutzens von Wissen – was hat der Forschungsgegenstand mit ihnen selbst und der Zukunft zu tun? Das gilt vor allem für die älteren Klassen. In letzter Zeit werde ich zuneh- mend angefragt für Themen der Klima- und Biodiversitäts- krise, also zumWissen für un- sere Daseinsvorsorge. Dabei habe ich auch schon intensive Debatten mit Schülerinnen und Schülern und ihren Lehrer- kräften darüber geführt, wie man über die Zukunft spricht. Ich verstehe meine Rolle als WissenschaftlerIn so, dass ich versuche, auf Basis des aktuel- len Sachstandes ein Bild der möglichen Pfade aufzuzeigen und zu erklären, woher unsere Prognosen kommen in Bezug auf Klimawandel, Veränderung der Ozeane und der Natur ins- gesamt und welche Rolle der Mensch dabei spielt. Dabei > Wissen für unsere Daseinsvorsorge

nutze ich stets den aktuellen Sachstand, der wiederum auf vielen Tausenden Einzelbeob- achtungen beruht, und ordne meine eigene Forschung ein. Die wahrscheinlichste Progno- se ist oft heftig: So müssen wir schon ab 2030 mit eisfreien Sommern in der Arktis, mit unglaublichen Verlusten an Lebensvielfalt und verschärften Bedingungen durch Extrem- wetter rechnen. Wir werden zum Jahr 2050 den größten Teil der weltweiten Korallenriffe verloren haben und so vor phä- nomenalen Veränderungen des Artengefüges im Meer stehen. Wir werden die Gletschermas- sen weiter zum Abschmelzen bringen, sodass wir mit einem erhöhten Meeresspiegelan- stieg von einem Meter zum Ende des Jahrhunderts rechnen müssen, der danach noch schneller steigt. Wenn man be- denkt, dass zehn Prozent aller Menschen direkt an der Küste leben und nur wenige von Dei- chen geschützt werden, dann bedeutet das, dass Millionen Menschen ihre Heimat verlie- ren und vertrieben werden. Wir könnten aber auch auf einen anderen Pfad gelangen, wenn es uns gelingt, in Europa und weltweit aus der Nutzung der fossilen Energiequellen auszu- steigen und diese durch rege- nerative Energien zu ersetzen. Was können wir tun? Spätestens bei diesem Thema – was kann ich, was können wir denn tun? – gibt es bei der Wissensvermittlung einige >

Konflikte. Denn dann steht man mitten in einer politi- schen Diskussion und braucht viel Faktenwissen, um begreif- bar zu machen und zu begrei- fen, dass der Klimawandel und auch die Umweltzerstörung mit weiteren großen globalen Problemen zusammenhängen. Nur zu gerne würden alle sich konzentrieren auf die Selbst- wirksamkeit, »was kann ich denn tun«, »was tun die Ande- ren«, »was tut meine Schule«, um nachhaltiger zu leben. Wir WissenschaftlerInnen haben dann oft die schwierige Rolle, darauf aufmerksam zu ma- chen, dass die großen globalen Herausforderungen andere Lösungen haben als die Sum- me individueller Handlungen. Es ist ein wichtiger Auftrag der Schule, Lernkompetenz umfas- send zu stärken, zu selbststän- digem, systemischem Denken und Problembewusstsein zu erziehen. Wie die wissen- schaftliche Lehre hat auch die Schulbildung die Aufgabe, dazu beizutragen, dass Men- schen das Werkzeug erhalten, durch Wissen und Selbstwirk- samkeit zu mündigen Bürgern zu werden. Dazu werden auch Werte vermittelt und Erkennt- nisse eingeordnet. Gerade in Bezug auf das The- ma ‘Meere, Klima, Mensch’ ist es vor allem wichtig, die Kom- plexität von Problemen heraus- zuarbeiten und dabei die Rolle der Politik, auch internationa- ler Institutionen zu klären. Die übergreifende Problematik >

8

> PROFIL | September 2021

Made with FlippingBook Digital Publishing Software