Profil 9/2021

Die Profil Ausgabe 09/2021 mit dem Leitthema "Deutsche Schulen im Ausland - Einmal als Lehrkraft ans andere Ende der Welt" ist veröffentlicht. Jetzt lesen!

9 / 2021

MIT VERLOSUNG Seite 40

Meeresbiologin Prof. Dr. Antje Boetius: Klimakrise im Unterricht – WennWissenschaft in die Schule kommt

Pädagogik & Hochschul Verlag . Graf-Adolf-Straße 84 . 40210 Düsseldorf

Eckart von Hirschhausen: Klimawandel in der Schule – Das wünsche ich mir von unseren Lehrkräften! Bildungsministerin Bettina Martin:

»Impfen ist der einzige Weg heraus aus der Pandemie«

PROFIL > auf ein wort

Gymnasiale Bildungsqualität sichern – Klimadebatte und Demokratieerziehung anspruchsvoll gestalten!

Foto: Marlene Gawrisch

Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, vor zwei Jahren führten wir unseren bun- desweiten Gymnasialtag zum Thema: ‘Die Menschen bilden – das Gymnasium stärken: Das Thema Klimawandel und der gymnasiale Bildungsanspruch!’ durch. Schon ‘damals’ war unsere Positionie- rung davon getragen, dass wir den an- spruchsvollen Fachunterricht als den Ort der gründlichen und vertieften sachli- chen Auseinandersetzung in der perso- nalen Interaktion zwischen Schülern und Schülerinnen und ihren Lehrkräften sa- hen. Unsere Vorstellung von Lehrkräften: Sie sind unverzichtbare Autoritäten, wenn es gilt, gymnasiale Bildung als anspruchsvolle fachliche Auseinander- setzung, u.a. mit den Schlüsselproble- men der heutigen Zeit, interaktiv mit den Schülern und Schülerinnen zu leben. Die Bedeutung der personalen Interakti- on im gymnasialen Fachunterricht, im Präsenzunterricht, kann nicht hoch ge- nug eingeschätzt werden. ‘Damals’ war der Blick vor allem auf die Stärken und Schwächen der Digitalisierung gerichtet, in einer Welt, in der Schnelligkeit häufig auch mit Oberflächlichkeit einhergeht und Demokratisierung mithilfe des Inter- nets oft auch Popularisierung bedeutet. ‘Heute’ zeigt uns die Erfahrung während ‘Corona’ erneut, dass gerade das perso- nale und soziale Miteinander Bildung und Erziehung im und durch den gymna- sialen Fachunterricht sichert. Hier wer- den nämlich Inhalt und Form – die in- haltliche Durchdringung wichtiger Bil- dungsinhalte einerseits mit der Form der personalen Auseinandersetzung und des präsentisch-argumentativen ‘Hinste- hens’ andererseits– miteinander ver- knüpft. Ich bin sehr froh, dass die eingeladenen Expertinnen und Experten unserer bevor- stehenden DPhV-Fachtagung zu ‘Klima- debatte und Demokratie als Gegenstand gymnasialen Unterrichts’, deren Vorträge

wir anschließend auch online zugänglich machen werden, unsere gymnasiale Bil- dungsaufgabe, die der Vermittlung ver- tiefter Allgemeinbildung, Wissenschafts- propädeutik und allgemeiner Studierfä- higkeit, stärken: Prof. Dr. Antje Boetius mit ihrem wichtigen Hinweis, dass »die großen globalen Herausforderungen an- dere Lösungen haben als die Summe in- dividueller Handlungen«; Karl Walter Hoffmann mit der Erläuterung des Zieles der Diskursfähigkeit auf der Basis eines anspruchsvollen Fachunterrichts. In ihm werden die Schüler und Schülerinnen vertraut gemacht mit den gegenwärti- gen und zukünftigen gesellschaftlichen Herausforderungen und zur ‘Problemori- entierung und Problemlösungsorientie- rung’ angeregt. Immer gilt es dabei, komplexe Probleme unserer Welt mehr- perspektivisch aus verschiedenen Fach- perspektiven zu betrachten. Gymnasiale Bildungsqualität bedeutet damals wie heute, unsere Schüler und Schülerinnen mit möglichst hohen An- forderungen im kognitiven wie im nicht- kognitiven Bereich zu konfrontieren und sie durch bestens ausgebildete Lehrkräf- te in dieser Konfrontation nicht allein zu lassen, sondern zu stützen und zu stär- ken. Dieser Anspruch ist bildungspoli- tisch hochaktuell und die Voraussetzun- gen dafür sind berufspolitisch immer wieder neu anzumahnen – so wie dies der DPhV und seine Landesverbände kontinuierlich tun.

Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes

In herzlicher Verbundenheit

Ihre Susanne Lin-Klitzing

P.S. Wie Sie wissen, ist unsere neue Pressespre- cherin, Karolina Pajdak, froh und dankbar, wenn Sie ihr Kritik und Ideen zu PROFIL und einzelnen Beiträgen im Heft an leserpost@dphv.de senden. Wir freuen uns auf Ihre Äußerungen!

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> PROFIL | September 2021

PROFIL > inhalt

dphv-standpunkte >

dbb Fachkommission Bildung: Susanne Lin-Klitzing fordert neue Schulfinanzierung 5 KMK-Strategie »Bildung in der digitalen Welt«: DPhV fordert konsequent umgesetzte verbindliche Regeln für Datenschutz an Schulen! 5 DPhV-Klima- und Demokratietagung in Leipzig: ‘Demokratie und Klimadebatte als Gegenstand gymnasialen Unterrichts’ Prof. Dr. Antje Boetius: Die Meere, das Klima und die Rechte kommender Generationen: Wenn Wissenschaft in die Schule kommt Karl Walter Hoffmann: Vom Paukfach zum Denkfach: Basiskonzepte für einen zukunftsorientierten Geographie-Unterricht 11 Eckart von Hirschhausen: Klimawandel 18 Rainer Starke & Steffen Pabst: Unterstützung für den Unterricht: Der Klimawandel in Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien 24 6 7 in der Schule: Das wünsche ich mir von unseren Lehrkräften! titelthema klima >

Prof. Dr. Antje Boetius: Die Meere, das Klima und die Rechte kommender Genera- tionen: Wenn Wissenschaft in die Schule kommt Seite 7

Eckart von Hirschhausen: Klimakrise im Unterricht: Das wünsche ich mir von unseren Lehrkräften Seite 18

> vor ort

Baden-Württemberg rutscht bei INSM Bildungsmonitor 2021 ab – PhV fordert: Wir müssen von Sachsen und Bayern lernen! 30

> gesundheit

Stress im Job? Das können Sie gegen Nackenschmerzen tun

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> interview

Mecklenburg-Vorpommerns Bildungs- ministerin Bettina Martin (SPD): »Impfen ist der einzige Weg heraus aus der Pandemie« 34

Stress im Job? Das können Sie gegen Nackenschmerzen tun Seite 32

> buch-tipp & verlosung

‘Wütendes Wetter’: Wer ist schuld an Hitzewellen, Hochwassern und Stürmen?

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40

> impressum

einkommensrunde 2021

>

dbb magazin

Forderung zur Einkommensrunde 2021 mit der TdL: Fünf Prozent mehr Geld für die Beschäftigten der Länder

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Mecklenburg-Vorpom- merns Bildungsministerin Bettina Martin (SPD): »Impfen ist der einzige Weg heraus aus der Pandemie« Seite 34

bundestagswahl 2021

>

dbb magazin

... Bundeswahlleiter Dr. Georg Thiel: Die Sensibilität hinsichtlich der IT-Sicherheit ist geschärft dbb magazin: Warum sollten Beschäftigte des öffentlichen Dienstes Ihre Partei wählen?

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> PROFIL | September 2021

PROFIL > dphv-standpunkte

Foto: AdobeStock

dbb Fachkommission Bildung Susanne Lin-Klitzing fordert neue Schulfinanzierung

Berlin – Der Deutsche Philolo- genverband (DPhV) fordert die Kultusminister der Länder auf, die fortschreitende Digi- talisierung an unseren Schu- len endlich rechtlich vollum- fänglich abzusichern. »Vor al- lem während der Pandemie, in der Unterricht verstärkt digi- tal stattfand, haben Lehrkräf- te die Datenschutz-Problema- tik deutlich zu spüren bekom- men«, stellt die DPhV-Vorsit- zende Susanne Lin-Klitzing klar. »Immer wieder kam es in den vergangenen Monaten zu Fällen, in denen sich nicht au- torisierte Personen in Video- Berlin – Der Streit um die Kos- ten der Luftfilter in den Schu- len sei nur ein Symptom der ungleichen Schulfinanzie- rung, betont die Vorsitzende der dbb Fachkommission Bil- dung, Susanne Lin-Klitzing. »Egal, ob bei der aktuellen Diskussion um die Finanzie- rung der Luftfilter oder beim 2019 geschlossenen Digital- Pakt Schule: Zuschüsse vom Bund sind zwar unverzicht- bar«, sagt Susanne Lin-Klit- zing, die ebenfalls Vorsitzende des Deutschen Philologenver- bandes ist. »Diese Maßnah- men allein lösen jedoch die Probleme nicht, sondern be- kämpfen vielmehr deren Symptome.« Die Pandemie wirke wie ein Brennglas auf die bereits lange bestehende, ungleiche Schulfinanzierung. Deren Kernproblem sei die grundsätzliche Finanzierung der Schulen durch die kom- munalen Schulträger. »Nun

fehlen in Ländern und Kom- munen die Gelder, die es aktu- ell für die Kofinanzierung der Bundesgelder braucht. Der Ist- Zustand führt zu immer grö- ßeren Ungleichheiten in den Rahmenbedingungen für die schulische Bildung«, erklärt die dbb-Bildungsexpertin. Lin- Klitzing spricht sich deshalb für eine Neuausrichtung der Schulfinanzierung in Deutsch- land aus. »Ich bin eine starke Befürwor- terin des Bildungsföderalis- mus«, versichert sie. »Die Aus- stattung der Schulen muss aber bundesweit ein nahezu einheitliches Niveau errei- chen.« Ohne vergleichbare Rahmenbedingungen könne es keinen fairen Wettbe- werbsföderalismus geben. »Der DigitalPakt Schule und die Anti-Corona-Maßnahmen beheben die großen Ausstat- tungsunterschiede zwischen den Schulen nicht, denn viele

Geld für die Schulen? Die Regelungen derzeit führen zu immer größeren Ungleichheiten >

mitprotokollierten, um diese bei den Schulleitungen gegen Lehrkräfte zu verwenden. Der DPhV fordert, diese Verletzun- gen des Datenschutzes wirk- sam abzustellen!« Nach wie vor müssen viele Lehrkräfte ihre privaten End- geräte in einer privaten Infra- struktur für ihren Unterricht nutzen. Somit sind sie auch zumindest teilweise selbst für den Datenschutz verantwort- lich. Das droht auch so zu blei- ben, wenn der Unterricht wie- der primär der regelmäßige Präsenzunterricht und damit Foto: Marlene Gawrisch Städte und Gemeinden kön- nen sich den Eigenanteil an der Schulfinanzierung schlichtweg nicht leisten. Reiche Gemeinden können nun Bundesmittel abrufen und ihre Schulen auf ein digi- tales Topniveau bringen oder auch den Einbau von Luftfilter- anlagen gewährleisten sowie als Personal ‘digitale Haus- meister’ einstellen. Arme Ge- meinden können dies nicht.« Lin-Klitzing fordert deshalb ei- nen Schulpakt: »Wir müssen über die Kofinanzierung und einen föderalen Schulpakt re- den, der einen unbürokrati- schen Ausgleich sicherstellt.« Das gegenwärtige System von

Investitionen in die schulische Infrastruktur verstärke die Un- gleichheit zwischen den Schu- len in Deutschland. »Wir ze- mentieren sonst ungleiche Lebensverhältnisse in unse- rem Land, die unser Grundge- setz eigentlich ausschließt. Die kommunalen Schulträger benötigen dringend zweckge- bundene Ressourcen, unab- hängig von der allgemeinen Finanzlage der jeweiligen Ge- meinden.« Bei dieser Frage gehe es nicht nur um Chan- cengleichheit für die Kinder, sondern auch um die Perspek- tiven regionaler Entwicklung.

dbb Pressemittelung vom 9. August 2021

KMK-Strategie ‘Bildung in der digitalen Welt’ DPhV fordert konsequent umgesetzte verbindliche Regeln für Datenschutz an Schulen

auch ein digital unterstützter Präsenzunterricht sein wird. Der DPhV fordert deshalb die Dienstherren dringend dazu auf, ihrer Verpflichtung nach- zukommen, alle Lehrkräfte mit dienstlichen Geräten und einem dienstlichen Internet- zugang auszustatten und ei- nen standardisierten, an den Notwendigkeiten von Schulen angemessenen Datenschutz rechtlich sicherzustellen und technisch umzusetzen.

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Konferenzen einschalteten, dort störten, sich obszön ein- mischten oder Einzelheiten Datenschutz-Verletzungen müssen endlich wirksam abgestellt werden, fordert DPhV-Vorsitzende Susan- ne Lin-Klitzing

dbb Pressemittelung vom 10. Juni 2021

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> PROFIL | September 2021

Foto: AdobeStock

PROFIL > titel

Tausende Schülerinnen und Schüler demonstrieren für mehr Klimaschutz. Was bedeutet das für Schule und Unterricht? Das Thema ist im September Gegenstand einer DPhV-Fachtagung >

DPhV-Klima- und Demokratietagung in Leipzig

‘Demokratie und Klimadebatte als Gegenstand gymnasialen Unterrichts’

Leipzig – Klima ist Thema, genauso wie die dazugehöri- ge Klimadebatte! Und das nicht nur kurz vor der Bun- destagswahl oder auf ‘Fridays for Future’-Demonstrationen. Gerade erst hat uns die Flut- geführt, wie konkret uns der Klimawandel in Deutschland betrifft. Fast 200 Menschen kamen dadurch zu Tode. Häu- ser wurden weggespült, mit ihnen ganze Existenzen. Al- lein im Ahrtal zerstörte das katastrophe imWesten Deutschlands vor Augen

Hochwasser sechzehn Schu- len. Viele Schülerinnen und Schüler mussten das neue Schuljahr in Ersatzunterkünf- ten beginnen. Klima ist Thema! Und der angemessene Umgang mit diesem Thema! Denn um Aktionismus geht es dem Deutschen Philologenver- band, der vor zwei Jahren mit der Tagungsplanung be- gonnen hat, nicht. Wohl aber um eine angemessene und reflektierte Diskursfähigkeit,

die im Unterricht in den ver- schiedensten Fächern in der Auseinandersetzung mit die- sem Thema erworben wer- den kann. Deshalb hat der DPhV am 17. September in Leipzig zur Tagung ‘Demokra- tie und Klimadebatte als Gegenstand gymnasialen Unterrichts’ eingeladen. In PROFIL schreiben jetzt eine Referentin und ein Referent dieser Tagung: Prof. Dr. Antje Boetius, Direktorin des Al- fred-Wegener-Instituts Bre-

merhaven, erläutert, wie Wis- senschaft in die Schule kommt. Der Vorsitzende des Verbands deutscher Schulgeo- graphen, Karl Walter Hoff- mann, erklärt Basiskonzepte für einen zukunftsorientierten Geographieunterricht. In der nächsten PROFIL-Ausgabe stel- len wir Ihnen weitere Vorträge der Klimatagung vor. PROFIL lässt so alle DPhV-Mitglieder an den Inhalten der Tagung teilhaben, auch wenn Sie nicht nach Leipzig kommen konn- ten! ■

PROFIL > titel

Blick auf arktisches Meereis

Die Meere, das Klima und die Rechte kommender Generationen

Foto: Alfred-Wegener-Institut/Mario Hoppmann

Wenn Wissenschaft in die Schule kommt

regt werden, wenn man als WissenschaftlerIn auf einen Besuch vorbeikommt und sich und seinen Beruf direkt vor- stellt und ausfragen lässt.

Denn über die Methode selbst – wie erforscht man Unbe- kanntes, was wissen wir noch gar nicht, wie kommt man zum Nordpol oder in einen Tiefseegraben und wie sieht es da aus – setzt schon systemi- sches Denken auf mehreren vernetzten Ebenen ein. Foto: Alfred-Wegener-Institut/Esther Horvath Ich habe die Erfahrung ge- macht, dass die Bebilderung sehr hilft. Es ist nicht bei allen Themen einfach, Wissen visu- ell zu vermitteln, aber es lohnt sich sehr, es zu versuchen. Denn über die Augen lernt es sich gut. Kurze Videos von der Kraft der Wellen, von seltsa- mem Tiefseegetier, der Karte eines Tiefseeberges oder auch dem Schmelzen des Meereises unterstützen das Hören von Zahlen, Fakten, Einordnungen. Wo ein Prozess nicht direkt zu zeigen ist, helfen Animatio- nen, zum Beispiel von chemi- schen Reaktionen, die nur be- sondere Meeresbakterien kön- nen, oder von dem Ausbruch > Über die Augen lernt es sich gut

eines Tiefseevulkans, der Funk- tion eines Tiefseeroboters. Die zentrale Frage, die viele Menschen auch generations- übergreifend interessiert, ist die Rolle der Ozeane für die Erde und das Leben wie auch ihr Zustand. Was ist ihre Ge- schichte und wie geht sie wei- ter? Was ist der Einfluss des Menschen? Zunehmend fragen Schülerinnen und Schüler auch sehr traurige Fragen, die die Verunsicherung anzeigen: Werden die Meere und das Leben darin sterben? Dimensionen diskutieren Wenn ich vortrage, versuche ich erst einmal ein Gefühl für die Dimensionen der Ozeane, aber auch unseren Wissens- stand zu erzeugen. Im Ver- gleich aller Lebensräume der Erde wissen wir heute noch immer am wenigsten über die Meere. Das ist erstaunlich, denn sie sind ein essentielles Charakteristikum unseres Pla- neten, und ihre Funktion ist eng mit der Entstehung des >

von PROF. DR. ANTJE BOETIUS*

Bremerhaven – Als Polar- und Meeresforscherin ist es mein Beruf, Unbekanntes zu erfor- schen, dazu gehören sowohl neue Arten von Leben, wie auch unbekannte Unterwas- serlandschaften oder neue chemische Stoffwechselwege in den Meeren. Gleichzeitig bin ich Augenzeugin von massiver Veränderung der Ozeane durch den Einfluss des Menschen – sei es durch Klimawandel, Überdüngung, Überfischung, Meeresbodennutzung oder Vermüllung. Bei Wissen- schaftskommunikation direkt aus der Forschung hinein in die Schule habe ich die Erfahrung gemacht, dass man mit Kin- dern und Jugendlichen sehr leicht in gute Diskussionen kommen kann – wenn man den Einstieg in ein so fremdes Thema wählt wie die Rolle der Ozeane für unser Leben – über eine der stärksten Kräfte beim Lernen: die Neugierde. Die kann gleich mehrfach ange-

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* Die Meeresbiologin Prof. Dr. Antje Boetius (hier in der Lloyd Werft, Bremerha- ven) leitet seit 2017 das Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Sie ist Pro- fessorin für Geomikrobiolo- gie an der Universität Bre- men sowie Leiterin der Helmholtz-Max-Planck Brückengruppe Tiefsee- Ökologie und -Technologie.

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> PROFIL | September 2021

Foto: Alfred-Wegener-Institut/D’Hert Diederik

PROFIL > titel

Lebens und auch unserer eige- nen Daseinsvorsorge verbun- den. Die Weltmeere bedecken zwei Drittel der Erde und sind im Durchschnitt fast vier Kilo- meter tief. Sie nehmen neun- zig Prozent der Erwärmung der Atmosphäre auf, dreißig Pro- zent der CO 2 Emissionen, und sie erzeugen die Hälfte des Sauerstoffes, den wir atmen. Die Meere liefern einen wichti- ten wohnen oder dort Erho- lung suchen, steigt schnell. Der größte Teil der Waren und Materialien, die wir nutzen, wird über die Meere transpor- tiert, die weltvernetzenden Te- lekommunikationskabel laufen durch die Meere. Regenerative Wind- und Wasserkraft aus dem Meer wird immer wichti- ger als Energiequelle, vermut- lich müssen wir künftig immer häufiger Meerwasser entsal- zen, um Städte mit Wasser zu versorgen. Dennoch ist uns Landlebewesen das Meer weit- gehend unbekannt. Dies und anderes sind zentrale Bestand- teile vomWissen über den Ozean, sie sind anschlussfähig für viele Fächer und sowohl ak- tuelle Ereignisse und Nachrich- ten wie auch in Verknüpfung mit Literatur, Musik, Kunst. Neugierde wecken Mir scheint dabei, dass die natürlich gegebene Neugierde und Fantasie bei noch jungen Schülerinnen und Schülern es besonders einfach macht, auch eigenartige Fragen zu diskutie- ren und so auch systemisch zu lernen. Zum Beispiel habe ich gute Erfahrungen gemacht mit einer ‘Tiefsee’-Vorlesung für Kinder, bei der wir zusammen die vielfältigen Körperformen von Tiefseetieren anschauen und diskutieren, warum wir Tiere schön oder häßlich fin- den. Was es bedeutet, an die Umwelt angepasst zu sein, und nicht in eine andere Um- > gen Teil der Nahrung der Menschheit, zunehmend durch Aquakultur. Die Zahl der Menschen, die in Küstengebie-

Prof. Dr. Antje Boetius während einer Expedition 2014 vor dem Forschungsschiff ‘Polarstern’

welt versetzbar zu sein. Wa- rum manche Tiere von ande- rem Leben abhängen, zum Bei- spiel um zu leuchten im Dun- keln. Darüber kommen wir auf komplexe Themen wie Biogeo- graphie, Ökologie, Symbiose. Aber auch das Thema ‘Mensch’ – welche Emotionen für ande- res Leben haben wir und was bedeutet das? So habe ich ge- lernt bei Besuchen in der Schu- le, dass in der Vielfalt der Inte- ressen der Schülerinnen und Schüler es doch zumeist für alle etwas gibt, was sie faszi- niert. Das ist die Frage des Nutzens von Wissen – was hat der Forschungsgegenstand mit ihnen selbst und der Zukunft zu tun? Das gilt vor allem für die älteren Klassen. In letzter Zeit werde ich zuneh- mend angefragt für Themen der Klima- und Biodiversitäts- krise, also zumWissen für un- sere Daseinsvorsorge. Dabei habe ich auch schon intensive Debatten mit Schülerinnen und Schülern und ihren Lehrer- kräften darüber geführt, wie man über die Zukunft spricht. Ich verstehe meine Rolle als WissenschaftlerIn so, dass ich versuche, auf Basis des aktuel- len Sachstandes ein Bild der möglichen Pfade aufzuzeigen und zu erklären, woher unsere Prognosen kommen in Bezug auf Klimawandel, Veränderung der Ozeane und der Natur ins- gesamt und welche Rolle der Mensch dabei spielt. Dabei > Wissen für unsere Daseinsvorsorge

nutze ich stets den aktuellen Sachstand, der wiederum auf vielen Tausenden Einzelbeob- achtungen beruht, und ordne meine eigene Forschung ein. Die wahrscheinlichste Progno- se ist oft heftig: So müssen wir schon ab 2030 mit eisfreien Sommern in der Arktis, mit unglaublichen Verlusten an Lebensvielfalt und verschärften Bedingungen durch Extrem- wetter rechnen. Wir werden zum Jahr 2050 den größten Teil der weltweiten Korallenriffe verloren haben und so vor phä- nomenalen Veränderungen des Artengefüges im Meer stehen. Wir werden die Gletschermas- sen weiter zum Abschmelzen bringen, sodass wir mit einem erhöhten Meeresspiegelan- stieg von einem Meter zum Ende des Jahrhunderts rechnen müssen, der danach noch schneller steigt. Wenn man be- denkt, dass zehn Prozent aller Menschen direkt an der Küste leben und nur wenige von Dei- chen geschützt werden, dann bedeutet das, dass Millionen Menschen ihre Heimat verlie- ren und vertrieben werden. Wir könnten aber auch auf einen anderen Pfad gelangen, wenn es uns gelingt, in Europa und weltweit aus der Nutzung der fossilen Energiequellen auszu- steigen und diese durch rege- nerative Energien zu ersetzen. Was können wir tun? Spätestens bei diesem Thema – was kann ich, was können wir denn tun? – gibt es bei der Wissensvermittlung einige >

Konflikte. Denn dann steht man mitten in einer politi- schen Diskussion und braucht viel Faktenwissen, um begreif- bar zu machen und zu begrei- fen, dass der Klimawandel und auch die Umweltzerstörung mit weiteren großen globalen Problemen zusammenhängen. Nur zu gerne würden alle sich konzentrieren auf die Selbst- wirksamkeit, »was kann ich denn tun«, »was tun die Ande- ren«, »was tut meine Schule«, um nachhaltiger zu leben. Wir WissenschaftlerInnen haben dann oft die schwierige Rolle, darauf aufmerksam zu ma- chen, dass die großen globalen Herausforderungen andere Lösungen haben als die Sum- me individueller Handlungen. Es ist ein wichtiger Auftrag der Schule, Lernkompetenz umfas- send zu stärken, zu selbststän- digem, systemischem Denken und Problembewusstsein zu erziehen. Wie die wissen- schaftliche Lehre hat auch die Schulbildung die Aufgabe, dazu beizutragen, dass Men- schen das Werkzeug erhalten, durch Wissen und Selbstwirk- samkeit zu mündigen Bürgern zu werden. Dazu werden auch Werte vermittelt und Erkennt- nisse eingeordnet. Gerade in Bezug auf das The- ma ‘Meere, Klima, Mensch’ ist es vor allem wichtig, die Kom- plexität von Problemen heraus- zuarbeiten und dabei die Rolle der Politik, auch internationa- ler Institutionen zu klären. Die übergreifende Problematik >

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> PROFIL | September 2021

PROFIL > titel

des Umgangs mit der Natur einschließlich des Themas Meere wird nach meiner Beob- achtung in Schulen zu sehr auf das Thema physikalische Zu- sammenhänge und individuel- les Verhalten reduziert. Es eig- net sich aber, um zum Beispiel in Gemeinschaftskunde, Ge- schichte und Geographie um- fassend Aspekte von Politik, Wirtschaft und internationaler Zusammenarbeit zu erarbei- ten, gerade anhand der Nach- haltigkeitsziele (SDGs). Ein be- sonders starkes, Neugierde we- ckendes Motiv dafür ist zuletzt auch das Urteil des Bundesver- fassungsgerichts in Bezug auf die Freiheitsrechte kommender Generationen. »Welches Recht haben junge Menschen auf ei- ne Zukunft mit einem stabilen Klima, gesunden Meeren, Ar- tenvielfalt?« ist eine Frage, an- hand derer man die Komplexi- tät der Beziehung Mensch und Meer, Natur und Klima sehr

gut erarbeiten kann und ganz nahe ist bei praktischemWis- sen.

es einem Angst und Bange werden bei der gigantischen Herausforderung der Transfor- mation unseres menschlichen Handelns – und das in der kommenden Dekade. Aber mit Angst lernt es sich schlecht, sie muss mit Hoffnung und Akti- vierungsenergie gepaart wer- den, um Kreativität und Freude an Zukunftsgestaltung auszu- lösen. Uns Forschenden geht es ja nicht anders in der Situation, dass es schon so viel Wissen gibt, es aber oft ungenutzt bleibt oder gar abgelehnt wird. Wenn wir Gast sind an Schu- len, entsteht aber oft dieses schöne Gefühl eines Wissens- hungers, von Lernbegierde und auch Inspiration zumWeiter- forschen. Lebenslang lernen So bin ich schon oft gestärkt aus Schulbesuchen herausge- kommen, im Kopf noch die gu- ten klugen Fragen, die junge >

Menschen stellen können. Ein Junge, vielleicht zehn Jahre alt, fragte nach einem Vortrag zum Leben im Meer und Meeresna- turschutz. »Zu welchem Ge- richt geht eigentlich ein Fisch, wenn wir ihm sein Zuhause ka- putt machen?« Einige der an- wesenden Eltern lachten. Da wurde der Junge ärgerlich und sagte »Da muss man gar nicht lachen. Es ist doch das Zuhause des Fisches, das können wir Menschen doch nicht einfach wegnehmen. Dafür muss es doch ein Gericht geben, oder es ist total ungerecht.« Seitdem versuche ich mich einzudenken und einzulesen in die Frage des Rechtes der Natur auf Existenz, ganz schön schwierig. Ich wünschte, ich könnte nochmal zur Schule gehen. ■ [1] https://www.reklim.de/wissens- transfer/klimafit-klimawandel- vor-unserer-haustuer-und-was- kann-ich-tun/klimafit-projekt- beschreibung/

Mit Angst lernt es sich schlecht

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In der Wissenschaftskommuni- kation gibt es verschiedene An- sätze, auch hier direkt aus der Forschung an die Schulen zu kommen. Aufgrund der Dyna- mik des Themas braucht es vor allemWeiterbildungsangebote und Unterrichtsmaterialien für Lehrende. Wir bieten zum Bei- spiel mit der Initiative ‘klima- fit’ [1] Volkshochschulkurse, die Wissensketten von der globa- len bis zur regionalen Ebene verknüpfen. Zunehmend ist das Modell ‘Rent a scientist’ für die Besuche Forschender an Schulen beliebt und erfolg- reich, weil es einen dialogi- schen Austausch gewährleistet und auch die MINT-Anliegen stärkt. Und um Stärkung geht es für uns alle. Natürlich kann

Foto: AdobeStock

PROFIL > titel

Geographie ist kein Paukfach, sondern ein Denkfach, schreibt Karl Walter Hoffmann

Vom Paukfach zum Denkfach

Basiskonzepte für einen zukunfts- orientierten Geographie-Unterricht

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bare Aufgabe des Merkens der Zahl auf einmal recht einfach. Mit einer solchen Denkstrategie fällt nicht nur die Erschließung leicht, die Zahlenreihe kann auch deutlich länger behalten werden. Würden wir Ihnen nun eine weitere Zahlenfolge prä- sentieren, so würden Sie wahr- scheinlich das soeben gelernte Strukturprinzip wiederum an-

wenden und sich auch die neue Zahlenfolge sehr viel schneller und besser merken. Was also sind Basiskonzepte? Das Einprägung dieser Zahlen- folge verdeutlicht die Grund- idee der Basiskonzepte und führt zur folgenden Definition: Basiskonzepte (englisch auch ‘big ideas’ oder ‘key concepts’) sind nach Rainer Uphues > * Karl Walter Hoffmann un- terrichtet als Gymnasialleh- rer Geographie und evangeli- sche Religion. Seit 2012 ist er als Seminarleiter am Staatli- chen Studienseminar für das Lehramt an Gymnasien in Speyer tätig. Er ist Vorsitzen- der des Verbands deutscher Schulgeographen (VDSG e.V.) und Herausgeber und Autor zahlreicher geographiedidak- tischer Aufsätze und unter- richtspraktischer Beiträge.

von KARL WALTER HOFFMANN*

Und, ist es Ihnen gelungen? 210769110901261204 Das Einprägen dieser Zahlen- reihe hat Ihnen wahrschein- lich einige Mühe bereit. Es gibt jedoch Strategien, mit denen sich solche Zahlen bes- ser erschließen lassen. Wird etwa hinter jeder zweiten Zahl ein Punkt eingefügt, so zeigt sich, dass es sich um drei Daten handelt: Erkennt man mit der ersten Mondlandung, den Terroran- schlägen auf das World Trade Center in New York sowie dem Tsunami an Weihnachten in Südostasien zusätzlich die dahinter verborgenen geogra- phisch wichtigen Ereignisse, ist die anfängliche kaum lös- 21.07.69 – 11.09.01 – 26.12.04

Leipzig – Das Schulfach Erd- kunde/Geographie zentriert ganz bewusst das Prinzip der Zukunftsorientierung und da- mit ein Handeln aus entste- hender Zukunft heraus. Mein Artikel fokussiert sowohl ein basiskonzeptorientiertes als auch ein lösungsorientiertes Denken im Geographieunter- richt. Kurz: Vom Paukfach zum Denkfach und vom Katastro- phenfach zum Zukunftsfach.

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Was sind Basiskonzepte?

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Bevor Sie weiterlesen, möch- ten ich Sie bitten (in Anleh- nung an eine Übung nach Fögele 2016), sich innerhalb von zehn Sekunden die fol- gende Zahlenreihe zu merken:

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> PROFIL | September 2021

PROFIL > titel

(2013) grundlegende, für den Schüler nachvollziehbare Erklä- rungsansätze und Leitideen des fachlichen Denkens, die sich in unterschiedlichen geographi- schen Sachverhalten immer wiederfinden lassen. Wird die vorangestellte Übung beispiels- weise auf die Geographie über- tragen, so ergibt sich die Frage, was haben aus geographischer Perspektive die folgenden, zu- nächst ganz verschieden er- scheinenden Themen Massen- tourismus, Klimawandel und Biokraftstoff gemeinsam? Eine – alle Themen verbinden- de – Antwort wäre zum Bei- spiel das Basiskonzept ‘Nach- haltigkeitsviereck’. Alle drei Sachverhalte thematisieren aus geographischer Sicht einen Konflikt zwischen wirtschaftli- cher Leistungsfähigkeit, ökolo- gischer Verträglichkeit, sozialer Gerechtigkeit sowie partizipa- tiver Politikgestaltung. Auch das Basiskonzept ‘Maßstabs- ebenen/-wechsel’ als geogra- phischer Erkenntniszugang fin- det sich in allen drei Themen wieder, da zum Beispiel die Auswirkungen der dargestell- ten Prozesse jeweils Folgen auf lokaler, regionaler, nationaler, internationaler und auch glo- baler Ebene haben. Das Konzept der Nachhaltig- keit (Abbildung 1) steht für ein neues globales Wohlstandsver- ständnis, das über die vereng- te Betrachtung von Pro-Kopf- Einkommen hinausreicht. Im Laufe der Jahre wurde das so- genannte Nachhaltigkeitsdrei- eck (Umwelt-Wirtschaft-Sozia- les) erweitert. So fehlte etwa aus entwicklungspolitischer Überzeugung die politische Dimension. Nachhaltigkeit ist dieser Auffassung nach ohne politische Stabilität und eine entwicklungsorientierte Regie- rungsführung (good governan- ce) nicht zu erreichen. Also nicht, wenn grundlegende Ele- mente wie ‘Menschenrechte’, ‘Demokratie’, ‘Frieden’ und ‘Gleichstellung der Geschlech-

und diese stellen somit konkre- te Perspektiven auf das Mensch- Umwelt-System dar. Was leisten Basiskonzepte? Basiskonzepte sind für die Lehrkraft ein wichtiges Instru- ment der Unterrichtsplanung, weil sie als Relevanzfilter den fachlichen Kern des Unterrichts fokussieren. Der eigene Unter- richt wird konzeptualisiert und dadurch stärker ‘geographi- siert’. Leitend dabei ist, einen fachlich roten Faden durch die Themen meines Faches zu er- möglichen. Das (fachliche) Ler- nen verlangt ein längeres Ver- weilen am Thema, eine elabo- rierte Auseinandersetzung mit entsprechender Verarbeitungs- tiefe und bindet ganz gezielt das geographische Fragenstel- len und metakognitive Reflexi- onsphasen mit ein. Basiskonzepte können so als die ‘Grammatik’ des Faches ver- standen werden, während et- wa die geographischen The- men und Inhalte (Fachbegriffe und Raumbezüge, Modelle und Theorien) des Unterrichts die ‘Vokabeln’ darstellen. Basiskon- zepte als konzeptioneller Zu- gang bilden so aus diesen ein- zelnen Vokabeln eine sinnhafte (systematische) Gesamtstruk- tur. Kurz: Von der Beliebigkeit zur Systematik! Oder: Vom Stoff zum Konzept! Basiskonzepte stellen in beson- derer Weise ein Strukturie- rungsprinzip dar und leisten einen wertvollen Beitrag zur Förderung von Progression und des kumulativen Lernens. Das bedeutet auch, dass die klassi- schen Vorgaben einer Inhaltso- rientierung und Kompetenzori- entierung um die sog. Basis- konzeptorientierung erweitert werden müssen. So hat die Ge- staltung mehrphasiger Lern- aufgaben erfolgreiches Geo- graphielernen zum Ziel, wenn ganz bewusst ein Denken in Fachkonzepten, geographische Denkstrategien und der > >

Abbildung 1: Erweitertes Viereck der Nachhaltigkeit

Quelle: Eigene Darstellung

Definition: Das erweiterte Nachhaltigkeitsviereck bedeutet, dass Entwicklungen gleichzeitig sozial gerecht, wirtschaftlich sinnvoll, ökologisch verträglich und politisch demokratisch sein sollen. Dieser Vierklang gilt nicht nur auf lokaler Ebene, sondern weltweit (global denken, lokal handeln) und sollte auch nicht auf Kosten zukünftiger Generationen gelingen. Beispiel: Wie gelingt es Deutschland in seiner Industrieproduktion die CO 2 -Grenzwerte, die im Kyoto-Protokoll festgesetzt wurden, zu erreichen? Diskussion: Eine Ursache dafür ist, dass zahlreiche Pro- duktionen nach China ausgelagert wurden. Dass China die Grenz- werte nicht einhält, liegt also unter anderem auch daran, dass es unsere Waren produziert. Insofern haben wir in Deutschland eine ökologisch verträgliche Wirtschaft, die sozial gerecht und demokra- tisch ist, aber auf Kosten anderer Länder.

(intragenerationelle Gerech- tigkeit). Insofern wird häufig in der Geographie auf das er- weiterte Nachhaltigkeitsvier- eck zurückgegriffen. Aktuell werden in der Geogra- phie(-didaktik) sechs Basiskon- zepte diskutiert. Die Bildungs- standards Geographie für den Mittleren Schulabschluss (DGfG 2020) definieren das ‘Mensch-Umwelt-System’ als zentrales Basiskonzept sowie ‘Struktur-Funktion-Prozess’ und ‘Maßstabsebenen’ als veran- schaulichende Basiskonzepte zur Untersuchung des Mensch- Umwelt-Systems. Jüngst wur- de dieses Modell um drei wei- tere Basiskonzepte ‘Raumkon- zepte’, ‘Nachhaltigkeitsviereck’ sowie ‘Zeithorizonte’ erweitert

ter’ nicht gewährleistet wer- den. Unter anderem aus geo- graphischer Perspektive – die Geographie versteht sich als Raum-Zeit-Wissenschaft – wurden die zeitliche und die maßstäbliche Ebene vermisst. Im Sinne der zeitlichen Per- spektive kann nur dann von Nachhaltigkeit gesprochen werden, wenn der Einklang zwischen Ökonomie, Ökolo- gie, Sozialem und Politischem nicht die Lebenschancen zu- künftiger Generationen ent- scheidend beeinträchtigt (in- tergenerationelle Gerechtig- keit). In Bezug auf den Maß- stab darf der Ausgleich der vier Perspektiven auf lokaler Ebene nicht die Entwicklungs- chancen in anderen Teilen der Welt negativ beeinträchtigen

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Nutzen geographischer Er- kenntnisse in Lernphasen ein- gebunden werden. Mit ande- ren Worten: Basiskonzepte sind das Betriebssystem der Geographie, weil sie die Fach- lichkeit im Unterricht steuern und Lehr-Lernprozesse fachlich programmieren. Für Schülerinnen und Schüler sind Basiskonzepte zunächst Lernhilfen etwa im Sinne einer ‘Geographischen Brille’ oder ei- nes ‘Geographischen Schlüs- sels’. Sie stellen als systemati- sche Denk- und Analysemuster sowie Erklärungsansätze die fachspezifische Herangehens- weise der Geographie an einen Lerngegenstand dar. Schülerin- nen und Schüler werden aufge- fordert und angeleitet, Gegen- stände noch deutlicher geogra- phisch zu befragen und zu ana- lysieren. Dabei sind Kon- zeptwissen, Abstraktionsver- mögen und der Aufbau von tragfähigen Wissensnetzen er- forderlich. Im Ergebnis sollen die Schülerinnen und Schüler fachlich denken können. Basis- konzepte als Denkarten, Ana- lyseinstrument und Reflexions- werkzeug sind Lernhilfen zur Erschließung und Bewältigung von Komplexität. Vor diesem Hintergrund ist es für die Ge- staltung von Geographieunter- richt notwendig, dieses fachli- che Denken zu konkretisieren. Was kennzeichnet geographisches Denken? Geographisches Denken orien- tiert sich zur Bestimmung und Entfaltung eines lohnenden Problems zunächst an folgen- den Fragen: Wo ist es? Wie stellt es sich dar? Ist es so? Warum ist es dort? Wie ge- schah es? Welche Aus- und Nebenwirkungen hat es? Wie sollte es zum gegenseitigen Nutzen von Menschen und Natur gestaltet, geändert, repariert werden? Die Routine geographischer Denkweisen benutzt folgende Fragen: >

me zu anderslautenden Meinungen entwickeln?  Welche Dimensionen der Nachhaltigkeit betrifft die Problemstellung? Beste- hen Zielkonflikte zwischen den Dimensionen des Nachhaltigkeitsvierecks?  Mit welchen Nebenwir- kungen und mutmaßli- chen Folgen möglicher Handlungen ist zu rech- nen?  Wie lassen sich eigene Handlungsmöglichkeiten im sozialen Kontext für eine nachhaltigere Zu- kunft entwickeln? (Geographie-)Unterricht zwischen Problemori- entierung und Problem- lösungsorientierung Die UNO hat die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts definiert (Klima- wandel, Armut, Ressourcen- endlichkeit, weltweite Migra- tion, geopolitische Konflik- te, …). Schaut man sich die vollständige Liste an, so stellt man schnell fest, dass fast alle Themen im Fach Geographie behandelt werden. Geogra- phie unterstützt somit die Ju- gendlichen bei ihrem Engage- ment für eine bessere Zukunft (Stichwort ‘Fridays for Futu- >

re’), indem sie zum Beispiel die Ursachen, Folgen und Ge- genmaßnahmen in Bezug auf den Klimawandel analysiert, hier aber keinem blinden Ak- tionismus folgt, sondern Mög- lichkeiten zur Reflexion als Entscheidungsgrundlage poli- tischen Handelns bietet. Ein Denken in Zusammenhängen ist aktuell wichtiger denn je. Wie kein anderes Schulfach vernetzt das Fach Geographie naturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Be- trachtungs- und Arbeitswei- sen sinnstiftend miteinander. Im Sinne der Zukunftsstrate- gie Agenda 2030 mit ihren 17 Sustainable Development Goals (SDGs) leistet der Geo- graphieunterricht einen enor- men Beitrag zur darin ange- strebten Transformation unse- rer Welt. Das Schulfach Geographie zentriert die Zukunftsorientie- rung und damit ein Handeln aus entstehender Zukunft he- raus (Abbildung 2) . Dass sich die Ziele und der gesamte Un- terricht an dem zu orientieren haben, was in einem übergrei- fenden Sinn als bedeutsam im Blick auf das Leben des Men- schen (auf der Erde) angese- hen werden muss, findet >

 Welche räumlichen Mus- ter und Disparitäten las- sen sich identifizieren?  Welche wichtigen und exemplarischen Probleme lassen sich darin erken- nen?  Welche Geofaktoren ste- hen in Lage und Vernet- zung zueinander in Bezie- hung und bilden eine komplexe sachliche Ein- heit?  Wie hat sich dieses Bezie- hungsgefüge entwickelt bzw. wie wird es sich wei- terentwickeln? Entwickle dazu unterschiedliche Hypothesen (Vermutun- gen) und Szenarien. Wechselwirkungen beste- hen im System zwischen natürlichen und kulturel- len Faktoren?  Wie stellt sich ein Problem in verschiedenen räumli- chen und zeitlichen Maßstäben dar?  Wie lässt sich ein Problem aus unterschiedlichen (lokalen bis globalen) räumlichen, zeitlichen und sozialen Perspektiven betrachten?  Wie lassen sich eine quali- fizierte Meinung und eine persönliche Stellungnah-  Welche spezifischen

Abbildung 2: Lernprozessanregung zwischen Problemorientierung und Problemlösungsorientierung

Quelle: Eigene Darstellung

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> PROFIL | September 2021

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sofort Zustimmung. Konsens besteht darin, dass Lernen ent- lang herausfordernder Fragen und über lebendig empfunde- ne Probleme wirksam in Gang gesetzt werden kann. Problem- lagen mit hoher Alltagsrele- vanz motivieren und lösen Suchbewegungen aus. Und: »Einer Frage entspricht immer eine Methode des Findens. Oder man könnte sagen: Eine Frage bezeichnet eine Methode des Suchens.« Folgt man die- sem Zitat des Philosophen Lud- wig Wittgenstein, dann lässt sich im Allgemeinen eine Such- bewegung auf Lernerseite ent- decken und Lernen als Suche begreifen. Eine solche Lernpro- zessanregung geht von einem unbefriedigenden Ausgangs- punkt einer Spannung zwi-

schen Wissen und Nichtwissen aus und ist zunächst rück- schauend-analytisch angelegt und durch einen problembeto- nenden Denkmodus gekenn- zeichnet. Kurz: Mit Problemen Unterrichtseinstiege gestalten! In Anlehnung an Thomas Hoff- mann (2018), der eine lösungs- orientierte (Geographie-)Di- daktik fordert, soll hier für eine Erweiterung des problemori- entierten Ansatzes geworben werden. Kurz: Ein Plädoyer für einen Unterricht zwischen Pro- blemorientierung und Pro- blemlösungsorientierung! Beide Ansätze (Abbildung 2) sind aufeinander zu beziehen, ergänzen sich und können zir- kulierend – sich umeinander drehend – aufgefasst werden

(Abbildung 2). Sowohl alltags- nahe Problemfragen als auch mögliche Problemlösungen sind lernprozessanregend. Ein lernwirksames Ausbalancieren ist demzufolge erforderlich. Immer wiederkehrende Pro- blemstellungen kommen an Grenzen, wenn diese frustrie- rende Denkprozesse in Gang setzen, wie beispielsweise über demotivierende Schre- ckensszenarien (überflutete Küstenregionen, verschmutzte Meere, Dürrekatastrophen). Er- folgt hingegen die Lernpro- zess-anregung über Narratio- nen (vgl. SDG: ‘Gesichter des Wandels’ – mit konkreten Pro- jekten inspirieren!) und Gelin- gensgeschichten, wird die Idee verdeutlicht, dass Handeln

wirksam ist und dass es sich lohnt, es den handelnden Menschen gleich zu tun. Neben komplexen Problemla- gen und kontroversen Ent- scheidungssituationen erschei- nen mir Gelingensgeschichten und ‘Geschichten des Wandels’ ebenso relevant und lernpro- zessanregend. Lebensgeschich- ten, zumal Erfolgsgeschichten, rühren Menschen an, schaffen Identifikationsmöglichkeiten und setzen Motivationskräfte frei. Diese positive Kraft der Narrationen ermöglicht darü- ber hinaus, dass solche Ge- schichten des Gelingens und das damit verbundene neue Wissen tiefer und fester im Ge- dächtnis verankert werden können und weniger anfällig

PROFIL > ANZE IGE

SCHULBANKER Anmeldung für die neue Runde 1. Juni bis 10. Oktober 2021 unter www.schulbanker.de

Teilnehmerkreis ■ Schüler der Jahrgangsstufen 9 bis 13 ■ Schüler in Deutschland,

Österreich, der Schweiz und weiteren EU-Ländern

Ein Lehrer ist immer mit im Boot

■ Einsatzfertige Lehrerunterlagen ■ Materialien zu Anknüpfungs- themen ■ Seminarfachkonzept, Tipps zum Einsatz des Spiels ■ Lehrermarkt zum Mitspielen Meldet Euch an! Melden Sie Ihre Schüler an! ■ Drei bis sechs Schüler pro Team. Mehrere Teams möglich. ■ Ein Lehrer als Betreuungsperson

90.000 Jugendliche aus Deutschland und Europa waren schon dabei – und das mit viel Erfolg und Spaß am Spiel. Melden auch Sie Ihre Schüler an! Einmal selbst Banker sein Bei SCHULBANKER erleben Ihre Schüler hautnah, wie Marktwirtschaft und Wett- bewerb funktionieren. Sie nehmen im Chefsessel ihrer Planspielbank Platz und los geht’s…

Die Verantwortung liegt in den Händen der Schüler. Wie der Bankvorstand in der Rea- lität treffen sie die wichtigen Entscheidungen in allen Ge- schäftsbereichen: Sparen und Kredite, Aktienfonds, Filialen, Aus- und Weiterbil- dung und vieles mehr. Die Schüler stehen imWett- bewerb zu den anderen Teams auf ihrem Markt, beobachten Marktentwick- lung und Konjunkturlage. Sie wollen sich durchsetzen und erfolgreich sein.

Denn: Berlin, Berlin… Die besten 20 Teams fahren mit ihren Lehrern zu unserem Finale nach BERLIN!!! Und die besten drei Teams in Berlin ge- winnen Geldpreise für ihre Schulen und für ihr Team. Wir bieten ■ Finanz- und Wirtschaftswissen ■ Übung in Kommunikations- und Teamfähigkeit ■ Spaß, Spannung und Einblicke in die Welt der Banken ■ Spezialaufgabe für die beson- ders Engagierten in den Berei- chen Green Bonds, Kommuni- kation und Marketing

Kontakt Spielleitung SCHULBANKER Tel.: 0 30 / 1663-1209 E-Mail: schulbanker@bankenverband.de

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für das Vergessen sind. Tiefes Wissen ist, wie es DeJong et al. (1996) aufzeigen, ein ‘Ver- ständniswissen’, das es Lernen- den ermöglicht Zusammen- hänge zu erkennen und zu er- klären und unterschiedliche Standpunkte einzunehmen. Tiefes Wissen ist auch notwen- dig, um komplexe Aufgaben und Herausforderungen im All- tag und im Beruf zu lösen. Da- rin zeigt sich der Nutzen und Anwendungsbezug, die per- sönliche und gesellschaftliche Relevanz der Geographie. Eine lernwirksame Verschnei- dung beider Ansätze ermög- licht auch immer nach dem Aufzeigen von Lösungsideen kritisch nachzufragen, welches Problem damit gelöst wird und

ob das auch hinreichend ge- schieht. Um dann folgerichtig erneut nach weiteren und ggf. zukunftsfähigeren Lösungen zu suchen. Oder wie es Marie Ul- rich-Riedhammer (2021: https://doinggeoandethics. com/ ) umschreibt: Der problem- orientierte Ansatz verlangt eine Suche nach Kriterien zur Beur- teilung dessen, was schlecht ist. Der lösungsorientierte Ansatz verlangt eine Suche nach Krite- rien zur Beurteilung dessen, was Gutes geschieht. Vor diesem Hintergrund er- scheint es dringender denn je zu betonen, dass Wissenschaft als zentrale Referenz für schu- lisches Lernen gilt. Als didakti- sches Prinzip zielt die Wissen- schaftsorientierung grundsätz-

lich darauf ab, dass wissen- schaftliche Theorien und Er- kenntnisse im Unterricht fach- lich angemessen und korrekt dargestellt werden. Kurz: Un- terricht orientiert sich an wis- senschaftlichen Erklärungen! Globale Entwicklungen des Mensch-Umwelt-Systems im Allgemeinen (Globalisierung, Informationsgesellschaft, uvm.) und der Klimawandel im Besonderen erzeugen zusätzli- che Anforderungen aber auch Relevanz wissenschaftlichen Wissens und dem Umgang da- mit. Mit der Komplexität des Gegenstandes geht faktische Kontroversität, aber auch eine gewisse Unsicherheit und kurz- fristige Gültigkeit von Wissen einher. Moderner Geogra-

phieunterricht zielt demzufol- ge auch auf Diskursfähigkeit, wie beispielsweise »Wie ge- lingt Klimakommunikation?« und »Wie hängen Klimaerwär- mung und Bedrohung der Menschenrechte zusammen?«. Leitend ist dabei eine fachbe- zogene Diskursfähigkeit. Kurz: Lerne, dich mit guten Gründen fachlich-sachlich und persön- lich zu entscheiden! Fazit: Die Prinzipien Basiskon- zeptorientierung und Problem- lösungsorientierung verleihen dem Schulfach Geographie Breite und Tiefe. Konzeptuelles und lösungsorientiertes Den- ken und Handeln können als Brücken in veränderbare, weil gestaltbare Zukünfte, gedeu- tet werden. ■

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Klimakrise im Unterricht

Das wünsche ich mir von unseren Lehrkräften

Schulstunden nicht nachge- holt werden können und die Streikenden unbedingt be- straft werden sollten. Dann kam Corona, Schulen wurden über Wochen und Monate geschlossen, und bestraft waren die Schüler und die Eltern durch das ‘Home- schooling’. Von den verpass- ten Schulstunden war kaum mehr die Rede. Immer mehr hitzefrei Die Anzahl der heißen Tage wird noch zunehmen. Selbst wenn man die Hitzefrei-Defi- nition auf 30 Grad anhebt, wird es in siebzig Jahren mehr ‘Hitzefrei-Tage’ geben, als es überhaupt Freitage gibt, also über fünfzig pro Jahr. Sollte man also die Frei- tage heute nicht dafür nut- zen, diesen verrückten Zu- stand nach allen Kräften zu verhindern? Da wurde der jungen Generation jahrelang vorgeworfen, unpolitisch und desinteressiert zu sein, und plötzlich verhalten sie sich politischer und erwach- sener als viele Erwachsene. Die nächste Generation denkt viel globaler und inter- nationaler als meine, fordert Gerechtigkeit, fühlt sich zu- recht betrogen um ihre Zu- kunft auf diesem Planeten. >

Gleichzeitig behalten die Plakate Witz und Ironie: »Kurzstreckenflüge nur für Insekten«, »Wir gehen wie- der zur Schule, wenn ihr eure Hausaufgaben macht« oder »Wozu Bildung, wenn später keiner auf die Gebil- deten hört?« Als es hieß, die Jugend sollte solche komplexen Dinge doch bitte den Profis über- lassen, ließen die nicht lan- ge auf sich warten. In Win- deseile gründete sich ‘Scien- tists for Future’, um die Ju- gendlichen zu unterstützen. Ein paar Tage später saßen wir in der Bundespressekon- ferenz, stellten die lange Liste der Unterstützer vor und ihre klare Einschätzung: Die Sorgen der protestieren- den Jugendlichen sind wis- senschaftlich voll berech- tigt. Was nun? Meine Wünsche an Lehrkräfte Wie können Sie als Lehrkräf- te, Schulleiter und Gestalter an den Schulen Teil einer positiven Veränderung wer- den? Drei Wünsche: 1. Machen Sie weiter so, wenn Sie sich schon engagierten. 2. Wer- den Sie konkret, lebens- >

von ECKART VON HIRSCHHAUSEN*

Berlin – Hitzefrei! Das gab es zu meiner Schulzeit, wenn es um 10:00 Uhr mor- gens 25 Grad hatte – eine absolute Seltenheit. Aber Erinnerungen trügen, und deshalb fragte ich beim Deutschen Wetterdienst nach, wie viele Tage es in Berlin während meiner Schulzeit mit über 25 Grad um 10:00 Uhr gab. In den fünfzehn Jahren von 1980 bis 1995 gab es nur vier Ta- ge mit diesen Temperaturen. Im ersten Hitze-Rekordjahr 2003 gab es allein dreizehn solcher Hitzetage. Und in den letzten fünfzehn Jahren, also von 2005 bis 2020, wa- ren es in der Summe bereits einhundertfünfundvierzig Tage. Freitag für Freitag gehen seit 2019 auch in Deutsch- land Schüler und Studenten auf die Straße und protes- tieren für eine bessere und zukunftsorientierte Klima- politik. An den Schulstreiks entzündeten sich die Gemü- ter, was einem im Rückblick sehr seltsam vorkommt. Da- mals wurde argumentiert, dass einzelne verpasste

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Eckart von Hirschhausen engagiert sich für »Be smart – don’t start« und mit dem Pro- gramm ‘fit4future’ für Gesundheitsförde- rung, seelische Gesundheit und zukünftig noch stärker im Bereich Umweltbildung

Foto: Dominik Butzmann

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Foto: Dominik Butzmann

»Die nächste Generation denkt viel globaler und interna- tionaler als meine, fordert Gerechtigkeit, fühlt sich zu- recht betrogen um ihre Zukunft auf diesem Planeten«, schreibt Eckart von Hirschhausen in PROFIL >

zwischen einem überlebens- feindlichen Universum und dem einzigen bekannten Pla- neten mit Wasser und Sauer- stoff, Kaffee, Sex und Schoko- lade. Besser wird es nicht. Nir- gendwo. Warum endet jedes Fieber- thermometer bei 41 Grad? Weil wir mehr schlichtweg nicht aushalten an Körper- temperatur. Die Eiweißstoffe im Hirn gehen kaputt. So schwer uns das in den Kopf geht. Es gibt Dinge, die sind

nicht mehr umkehrbar. Irrever- sibel. Das weiß jeder, der schon mal ein Ei gekocht hat, dass Proteine, die einmal ihre Form durch Überhitzung ver- ändert haben, nicht mehr in die ursprüngliche Form zu bringen sind. Ein Ei wird bei über 40 Grad hart. Und auch wenn es wieder abkühlt, wird es nie wieder weich. Wir über- sehen wirklich, wie sehr wir auch als Menschen biologi- sche Wesen sind, mit einem sehr anfälligen und verletzli- chen Körper. Es ist eine große Illusion, dass wir uns ‘gewöh- nen’ können an Hitze. Und der sensibelste Körperteil ist aus- gerechnet der, mit dem Sie al- le arbeiten: der Kopf. Sorry Sportlehrer. Mathe, Physik, Bio hatten wir schon ins Boot ge- holt. Aber auch Fußball kann man nur spielen, wenn man einen kühlen Kopf behält. Und wenn man an die frische Luft soll, diese auch frisch ist! Hat Ihre Schule eine Dachbegrü- nung? Hat sie eine Erdwärme- pumpe oder Klimaanlage? Können Sie das Gebäude auf Durchzug schalten, oder kön- nen das nur individuell die Schülerinnen und Schüler? Machen Sie immer noch Flug- reisen in die Antike oder schon Zeltreisen in die Zukunft?

uns auch noch in dreißig Jah- ren alle Löcher in den Bauch fragen wird, was uns 2021 wichtiger war, als an dem größten Problem von uns al- len gemeinsam zu arbeiten. Material gibt es. Vorbildliche Schulen auch, wie zum Bei- spiel das Goethe-Gymnasi- um in Berlin Lichterfelde, das von der Stiftung Umwelter- ziehung mit dem Siegel ‘Internationale Nachhaltig- keitsschule’ ausgezeichnet wurde. Aktuell wird viel über Luftfil- ter in den Schulen diskutiert. Endlich sind Aerosole und Feinstaub ein Thema. Genau- so wichtig wären Luftfilter für die Atmosphäre, sprich ein schneller Kohleausstieg. Die Atmosphäre ist eben kei- ne Dunstabzugshaube, die alle schlimmen Gerüche ins Nirwana verfrachtet – sie ist eine hauchdünne Schicht, im Verhältnis zur Erde dünner als die Haut von einem Apfel. Und sie macht den entscheidenden Unterschied > Die Atmosphäre ist keine Dunst- abzugshaube

nah, aktiv und tauschen Sie die besten Beispiele aus. 3. Werden Sie öffentlich hörbarer und sichtbarer! Erstmal vorneweg: Viele en- gagieren sich. Auch nicht erst seit gestern. DANKE! Mehr davon! Ich hatte sehr engagierte Lehrerinnen und Lehrer und habe schon vor inzwischen 35 Jahren in poli- tischer Weltkunde Referate über die Vorteile eines Tem- polimits und über den sau- ren Regen gehalten. Auf der anderen Seite hat weder das Wissen noch das politische Bewusstsein in verschiede- nen ‘Bubbles’ zu einer wirk- samen Umsetzung in Politik und echten Klimaschutz ge- führt. Wir verfehlen 2021 unsere eigenen Klimaziele in Deutschland, der CO 2 -Gehalt der Atmosphäre ist so hoch wie noch nie und der aktuel- le IPCC-Bericht vom August 2021 ist eindeutig: Die Kli- makrise betrifft jeden Men- schen in jedemWinkel der Erde. Die Probleme löst man nicht mit einer Projektwoche, aber jeden Schultag sitzt genau die Generation vor Ihnen, die

DER AUTOR

Foto: Julian Engels

* Dr. Eckart von Hirschhau- sen (Jahrgang 1967) ist Arzt, Wissenschaftsjourna- list und Gründer der Stif- tung Gesunde Erde – Ge- sunde Menschen, die sich mit den gesundheitlichen Folgen der Klimakrise be- schäftigt.

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