Gymnasium Baden-Württemberg 11-12/2024
Gastbeitrag
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Antisemitismus an Schulen in Deutschland? D ie öffentliche Wahrnehmung von Anti semitismus (AS) hat sich seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. durchaus auch widersprüchliche Annahmen über vermeintliche kollektive Eigenschaften zwecks Abwertung bemüht (z.B. Geldgier, Verlogen heit). »Als diffuses Gefühl … der Ablehnung, … der tieferliegenden irrationalen, oft unbewussten Feindseligkeit« strukturiert AS die Wahrneh mung der Welt (38). Mithin manifestiert AS sich als Ressentiment und Weltanschauung (478).
Oktober 2023 in Teilen der deutschen Gesell schaft verändert. Während bis dahin konsta tierter AS und damit dessen Wahrnehmung der davon Betroffenen leicht infrage gestellt wurde, bestreiten einige dessen Vorhanden sein nicht mehr. Er ist auch nicht zu leugnen, wie sich etwa als ‘propalästinensisch’ darstellende Demonstratio nen deutscher Staatsbürger*innen an hiesigen Universitäten mit eindeutig antisemitischen In halten zeigen und zwar nicht erst, wenn sie die Auslöschung Israels fordern. Und AS im Schul bereich? – »Das gibt es doch gar nicht«, denken manche. Die Soziologieprofessorin Julia Bernstein leg te dazu die Untersuchung ‘Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde – Analysen – Handlungsoptionen, Weinheim 2020’ vor (Sei tenangaben nach dieser Ausgabe; auch bei BpB erschienen). Die Studie beruht auf Interviews mit jüdischen Schüler*innen, ihren Eltern sowie (nicht)jüdischen Lehrkräften und nimmt deren Sichtweise ernst. Das zentrale Ergebnis: Für Betroffene stellt sich AS an Schulen »als ‘Normalzustand’ dar« (480, vgl. 137, 147, 151, 479, 575, 578). Die 600 Seiten starke Studie, die das belegt, definiert AS und legt seine Erscheinungsformen wie seine Verbreitung dar; daraufhin präsentiert sie For schungsbefunde bezogen auf die Perspektive der betroffenen Schüler*innen wie Lehrkräfte (84). Vor allem analysiert sie die Themen ‘Israelbezo gener AS’, ‘AS und Rassismus’ sowie ‘Echos’ der Zeit von 1933 bis 1945 – gefolgt von Hand lungsempfehlungen. Manche*r wendet ein, es sei überzogen, in der Schule von AS zu reden und in jeder Form von ‘Kritik an’ / ‘Scherzen über’ / ‘Gewalt an’ Jüd*in nen AS zu sehen, z.B. weil man angeblich gar nicht genau wisse, was AS sei. Bernstein arbeitet mit einer klaren Definition: »AS ist ein Phänomen, das sämtliche Formen der Judenfeindschaft umfasst« und die »sich über Jahrhunderte in verschiedenen Erscheinungsfor men entwickelt« (36). Unabhängig vom Tun der Jüd*innen imaginiert der AS ein Bild von ihnen als Kollektiv und seine eigene Wirklichkeit, die alle gesellschaftlichen Übel Jüd*innen zuschreibt (36, 482). In dieser ‘Logik’ werden eigene as Handlungen als Gegenwehr gegen die als Ag gressor dämonisierten Jüd*innen legitimiert. Da rum entwickelt AS sich als Gewalt gegen Jüd*in nen, die ihren Alltag bedroht. Diese speist sich aus einem alltäglichen AS, mit dem Jüd*innen »auf eine gesellschaftliche Position ‘absoluter Andersartigkeit’ festgelegt werden« (37). Um diese herzuleiten, werden falsche, generalisierte,
Die Kontinuität des AS »in der Entwicklung seiner Erscheinungsformen« (43) bis heute zeigt sich im religiös motivierten und sozio-kulturell bestimmten Ressentiment etwa, wenn Schüler*innen und Eltern für die (historisch fal sche) Aussage, »die Juden« seien schuld am Tod Jesu, eine gute Note für mündliche Mitarbeit er warten, oder wenn dieser Vorwurf im Religions unterricht in Filmen wie ‘Die Passion’ von Mell Gibson als (falsches!) Wissen aufgefrischt wird. Wenn auf die Widerlegung des Gottesmord vorwurfes hin darauf verwiesen wird, »was die Juden heute den Palästinensern antun« (47), wird der religiös begründete AS mit dem israel bezogenen verknüpft, in dem Feindbilder aktua lisiert werden. Dabei wirkt der auf die Ritual mordphantasie (46) zurückgreifende Vorwurf, ‘Israel’ sei ein ‘Kindermörder’, stigmatisierend (65). Diese Anfeindung diskreditiert Jüd*innen persönlich nicht erst, wenn sie zu »Repäsentant*innen Israels gemacht werden« (201, vgl. 209). Dieser AS bewertet Israel nach Maßstäben, die an andere Staaten nicht angelegt werden, er dämonisiert Israel und setzt es mit nationalsozia listischem Handeln gleich – mit dem Ziel, Israel nationale Selbstbestimmung und Existenzrecht abzusprechen (203-4). Lehrkräfte erkennen die sen AS oft nicht oder rechtfertigen ihn als soge nannte ‘Israelkritik’ (209). Anstatt AS zu bagatellisieren, indem er mit Rassismus gleichgesetzt und als rein geschichtli ches Phänomen abgetan wird, das mit Gedenk stättenbesuch ‘ausgeglichen’ ist (289, 462, 482), gilt es, empathisch »die Position der Betroffenen [zu] stärken und jüdische Identität an[zu]erken nen« (434, vgl. 469), Widerstände gegen die The matisierung von AS zu überwinden und ein offe nes Gespräch über AS auf Augenhöhe zu er möglichen (482). Zumindest die
Sabine Grobe [S.G.] Helmut Hauser [H.H.] Bettina Hölscher [HL] Edelgard Jauch [E.J.] Anne Käßbohrer [A.K.] Richard Zöller [R.Z.] Herausgeber: Philologenverband Baden-Württemberg Alexanderstraße 112 70180 Stuttgart Tel.: 0711 2396250 Fax: 0711 2396277
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Norbert Schmeiser
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