Gymnasium Baden-Württemberg 11-12/2024

Das Mitgliedermagazin des Philologenverband Baden-Württemberg

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Nr. 11-12/2024

Der Philologenverband Baden-Württemberg sowie die Redaktion der Zeitschrift ‘Gymnasium Baden-Württemberg’ wünscht all seinen Mitgliedern, Leserinnen und Lesern sowie allen Lehrkräften eine schöne Adventszeit, ein besinnliches Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr! Bleiben Sie gesund!

Inhalt

Editorial

in der Schullandschaft ist Bewegung und kurz vor den Herbstferien kamen die ersten offiziellen Neuigkeiten der Planungen des Kultusministeriums zu G9 an die Schulen. Jedoch ist darin unserer Meinung nach längst nicht alles zu Ende gedacht. Auch sind nicht alle Einzelheiten de tailliert dargestellt, manches bleibt noch im Ungewissen. Mit vielen offenen Fragen wurden wir, wie so oft, vom Kultusministerium zurückgelassen. Danke für all Ihre vielen Zuschriften an uns, in denen Sie Ihre Anliegen und Wünsche zu den G9-Planungen formuliert haben. Hier ein paar Aus züge, die wir in einem Brief an Frau Ministerin Theresa Schopper und an das Gymnasialreferat im Kultusminis terium formuliert haben: Liebe Kollegin, lieber Kollege, Am meisten drückt bei den Hauptfä chern, die nun nur noch dreistündig unterrichtet werden sollen, vielen Lehrkräften der Schuh. Dies bedeutet sowohl für Lehrkräfte als auch für Schülerinnen und Schüler eine Erhö hung der Arbeitsbelastung, denn un ter anderem wurde die Anzahl der Klassenarbeiten noch nicht neu be dacht. Für die Schülerschaft und die Lehrkräfte bedeutet dies eine deutli che Erhöhung der schriftlichen Arbei ten in Relation zur Unterrichtszeit. Latein ab Klasse 5, Musik- oder Sport Profile, Hochbegabtenzüge und weite re ‘besondere’ Gymnasien müssen un bedingt erhalten bleiben. Sie stärken die Vielfalt unserer Bildung und somit unserer Gesellschaft. Diese Gymna sien waren darauf angewiesen, mit den Poolstunden ihre Züge bzw. Profile einzurichten. Dafür sind aber die ver bleibenden Poolstunden, die nun ge Profilgymnasien müssen erhalten bleiben 3-Stündige Kernfächer

von Martina Scherer Landesvorsitzende des Philologenverbandes Baden-Württemberg

bunden einzusetzen sind, nicht aus reichend. Vielfältige Schwerpunkte an Gym- nasien stärken die Bildungsgerechtig keit und eröffnen jedem Kind die individuell passenden Chancen.

Projektarbeit

Editorial [Martina Scherer] 2 Wegweisend für die nächste Einkommens- runde mit den Ländern? [Ursula Kampf] 3 Demokratiebildung als unverzichtbarer Teil der Lehrerausbildung [Miriam Plachta] 4 Personalräteschulung Nordwürttemberg [Alex Epp] 5 Wir gestalten Schule [Claudia Grimm] 6 Umfrage Corona Lernrückstände im Schuljahr 2023/2024 [Andrea Pilz] Abitur, G9 und Ergebnisse der Umfrage zu Corona-Lernrückständen [Andrea Pilz und Stefanie Wölz] Warnung vor der Abschaltung des Landesbildungsservers [Dieter Grupp] 7 8 9

Bei der Projektarbeit, die nun am Gymnasium ebenfalls verankert wird, obwohl eigentlich schon seit Jahren praktiziert, sollte auch an deren Bewertung gedacht werden. So sollte sie auch eine feste Größe in der Notenverordnung einnehmen, zu mindest in den Klassenstufen, in denen sie verankert wurde. Sie könnte zum Beispiel eine schriftliche Leistung ersetzen. In Zeiten von KI, in der sich der Fo kus der Abschlussprüfungen auch in den mündlichen Bereich verschoben hat, sollte das Format der GFS eben falls weiterentwickelt werden und nicht einfach unter der ‘alten’ Defini tion stehen bleiben, man könnte auch generell über deren Sinnhaftigkeit nachdenken. Wir setzen uns mit Nachdruck für Ihre Anliegen ein und hoffen, dass wir in den kommenden Monaten die Kritik, die Anregungen und Wünsche aus Ihren Reihen, als Rückmeldungen von der Basis noch erfolgreich bei den Verantwortlichen platzieren können. Schreiben Sie mir gerne. Weiterentwicklung der GFS

Der PhV BW trifft … [Martina Scherer]

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Einladung zur Regionalversammlung ‘Obere Donau’ Stufenpersonalräteschulung des PhV BW [Enver Groß]

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Stellungnahme des IBBW zum Artikel ‘Wohlfühlpädagogik mit Nebenwirkungen’ [IBBW]

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Die 4-Tage-Woche im Öffentlichen Dienst [Désirée Reidel]

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Antisemitismus an Schulen in Deutschland? [Norbert Schmeiser]

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Titelbild: Floydine/AdobeStock

Redaktionsschluss: Jan.-Feb.-Ausgabe: 27. Dezember 2024, März-April-Ausgabe: 24. Februar 2025. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Druckschriften wird keine Gewähr übernommen (ohne Rückporto keine Rücksendung). Alle Manuskripte sind an die Redaktion zu senden!

Ich verbleibe mit herzlichen Grüßen

Enver Groß | enver.gross@phv-bw.de Pfannenstiel 34 | 88214 Ravensburg

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Arbeitnehmer

Wegweisend für die nächste Einkommensrunde mit den Ländern?

Die Vorstellung der gemeinsamen Forderungen von dbb und ver.di für die anstehende Einkommensrunde mit Bund und Kommunen

d bb Chef Ulrich Silberbach konsta tierte am 9. Oktober 2024 auf der Pressekonferenz in Berlin: »Wir brauchen endlich Entlastung für die Kolleginnen und Kollegen, die unser Land am Laufen halten und die Arbeit der 570000 fehlenden Beschäftigten im öffentlichen Dienst miterledigen. Und wir müssen endlich attraktiver werden, um diese offenen Stellen besetzt zu bekommen.« [dbb beamtenbund und tarifunion, Einkommensrunde 2025 SPEZIAL, Das Magazin zur Einkom mensrunde mit Bund und Kommu nen, Oktober 2024, S.3] Die Forderungen gegenüber Bund und Kommunen * betreffen die Berei che Entgelt und Arbeitszeit (nachfol gend Auszüge); des Weiteren erwar tet der dbb manteltarifliche Änderun gen. Entgelterhöhung im Volumen von acht Prozent, mindestens aber 350 Euro monatlich (Laufzeit zwölf Mo nate) Das Volumen kann auch zum bes seren finanziellen Ausgleich von besonderen Belastungen genutzt werden. Hierzu sind Zulagen und Zuschläge wie folgt zu erhöhen …« [Ebenda, S. 3] → → »Entgelt

• Entgelterhöhungen • zusätzliche freie Tage

• Überstunden • Zeitzuschläge • Teile der Jahressonderzahlung … Das ‘Mehr-Zeit-für-mich-Konto’ kann von den Beschäftigten ins besondere für eine Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit, zu sätzliche freie Tage oder längere Freistellungsphasen genutzt wer den. … Neuregelung der Altersteilzeit un ter Einbeziehung einer Vorrang regelung für besonders belastete Beschäftigte für den vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand« (Ebenda, S. 4) Vorher hatten die dbb-Bundestarif kommission und der dbb-Bundesvor stand am 9. Oktober 2024 in Berlin mögliche Forderungen auf dem Hin tergrund von Inflation, vergangenen Jahren mit Reallohnverlust und nöti ger Stärkung der Kaufkraft diskutiert und die oben genannten Forderungen im Blick auf die andauernde massive Belastung und dem Wunsch der Be schäftigten nach individuellen Gestal tungsmöglichkeiten beschlossen. → →

von Ursula Kampf Mitglied der dbb-Bundestarifkommision

»Arbeitszeit

zusätzlich drei freie Tage (§ 26 TVöD) zum Ausgleich für die hohe Verdichtung der Arbeit so wie einen zusätzlichen freien Tag für Gewerkschaftsmitglieder … Einrichtung eines ‘Mehr-Zeit-für mich-Kontos’, über das die Be schäftigten (ohne Nachwuchs kräfte) eigenständig verfügen (Zeitsouveränität): • Beschäftigte entscheiden am En de des Ausgleichszeitraums, ob die zusätzliche Arbeitszeit einschließ lich Überstundenzuschläge ausge zahlt oder auf das ‘Mehr-Zeit-für mich-Konto’ gebucht wird. Auf das ‘Mehr-Zeit-für-mich Konto’ können auf Wunsch der/des Beschäftigten insbeson dere folgende Bestandteile ge bucht werden:

* Details: s. dbb beamtenbund und tarifunion, Einkommensrunde 2025 SPEZIAL, Das Magazin zur Einkommensrunde mit Bund und Kommunen, Oktober 2024.

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GBW 11-12/2024

Junge Philologen

Demokratiebildung als unverzichtbarer Teil der Lehrerausbildung Die Jungen Philologen Deutschlands zu Gast in The Länd Herbst-Tagung 2024 in Stuttgart vom 5. bis 7. September 2024 G ut gelaunt kamen 25 Junge Philo logen und Gäste im JAZ in the City-Tagungsbereich zusammen

und wurden durch Georg Hoffmann, dem Vorsitzenden der Jungen Philo logen im DPhV, herzlich begrüßt - und die Tagung konnte offiziell begin nen. Offiziell deshalb, da sich die Teil nehmer bereits vorab bei einem Mit tagessen freudig begrüßen und auf den neuesten Stand bringen konnten. Wie immer war es schön, sowohl neue als auch bekannte und geschätzte Ge sichter zu sehen. Auch die JuPhis aus Baden-Württemberg waren natürlich Teil der Gruppe und wurden durch die JuPhi Landesvorsitzende Stefanie Schrutz, Maximilian Röhricht (stell vertretender JuPhi-Vorsitzender und Vorstandsmitglied der Jungen Philo logen) und Miriam Plachta vertreten. Nach einer Einstimmungs- und Vorstellungsrunde der Gäste, insbe sondere von Iris Bilek von der BBW Jugend und Martina Scherer, der neu gewählten Vorsitzenden des PhV BW, stellte Letztere die Verbandsarbeit des Gastgeberlandes vor. Wichtige Themen dabei waren der Bericht aus der tagesaktuellen Landespressekon ferenz, Neuerungen bei der Rückkehr zu G9, Stand der Digitalisierung im Land und die Zukunft bzw. die At traktivität des Lehrerberufs. Im Anschluss folgten die Länderbe richte, die einen guten Einblick in die Bildungspolitik, die Herausforderun gen des Schulalltags und die aktuellen Entwicklungen in den verschiedenen Bundesländern gaben. Bei vielen As pekten decken sich die Berichte, man ches, was einem im eigenen Bundes land als schwierig oder nachbesse rungswürdig erscheint, rückte so aber auch im Vergleich in ein neues Licht. Allen Bundesländern bzw. allen Ver bänden liegen die Themen der Digita lisierung, des Lehrkräftemangels bzw.

der aktuellen Lehrereinstellungen und aber auch der Gewinnung von Mitgliedern am Herzen. Nach einer kleinen Kaffeepause, in der sich weiter vernetzt und die Gele genheit für diverse Gruppenfotos ge nutzt wurde, ging es mit der Vorberei tung des Gesprächs mit Theresa Schopper, Ministerin für Kultus, Ju gend und Sport des Landes Baden Württemberg, weiter. In guter und offener Atmosphäre berichtete die Ministerin zunächst von aktuellen Entwicklungen in der Bil dungspolitik im Ländle, auch im Ver gleich zu anderen Bundesländern. Be sonders interessant dabei waren drei Aspekte: Die Herausforderungen bei der Einführung von G9 – die laut Frau Schopper nicht nur der inhaltli

chen Neufassung der Bildungspläne bedarf, sondern die Schulen auch vor räumliche und personelle Herausfor derungen stellt. Auch würden immer mehr Schülerinnen und Schüler aufs Gymnasium wechseln, was in ihren Augen ein zweigliedriges Schulsystem (Gymnasium und Gemeinschaftsschu le) besser bewältigen könnte, dennoch möchte sie in der derzeitigen Koaliti on nicht am vereinbarten Schulfrieden rütteln. Gerade vor dem Hintergrund, dass Baden-Württemberg sich im Hin blick auf aktuelle Schülerleistungen noch verbessern kann, war es der Mi nisterin wichtig, mit besonnenen Maß nahmen gegenzusteuern und dabei auch gute und richtige Neuerungen (zum Beispiel die Einrichtung des Zentrums für Schulqualität und Leh

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Nordwürttemberg

rerbildung) ihrer Vorgängerin im Amt beizubehalten. Am zweiten Tag der Klausur nahmen wir gerne, ganz im Sinne der gelebten Nachhaltigkeit, den ÖPNV, um, in Bad Urach angelangt, über die ‘Himmelsleiter’ zum ‘Haus auf der Alb’ (einer Außenstel le der Landeszentrale für politische Bil dung) zu gelangen, wo wir bereits erwartet wurden. Nach herzlichem Empfang durch Nina Deiß und kurzer Stärkung begann die Führung durchs Haus. Schwerpunkte waren dabei Informationen zur bewegten Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Hauses und seiner besonderen, auf die Alb angepassten Architektur. In der Folge wurde, angeregt durch einen Impulsvor trag von Herrn Dr. Bröse (LPB, Leiter der Abteilung Schule und Bildung) zum Schwerpunktthema der Tagung ‘Demo kratiebildung als unverzichtbarer Be standteil der Lehrerausbildung?’ das The ma mit Erfahrungen aus allen Bundeslän dern weiter vertieft. Ersichtlich wurde, wie unterschiedlich die Wege und Heran gehensweisen und der Fortschritt der Im plementierung sind. Gleichzeitig merkte man, welchen wichtigen Stellenwert das Thema bereits hat und in Zukunft haben wird, denn um Schülerinnen und Schüler zu verantwortungsbewussten und mündi gen Erwachsenen heranwachsen zu lassen, müssen sie für die Basis der Demokratie begeistert werden – hierzu müssen aber auch die Lehrkräfte selbst zu Experten werden. Jede einzelne Schule muss sich auf den Weg machen; wichtig ist eine Schulgemeinschaft, die sich selbst moti viert und entwickelt. Mit neuen Ideen im Gepäck ging an schließend der ‘Wandertag auf der Alb’ der Jungen Philologen in sein letztes Drit tel über. Auf dem Rückweg wurden die verschiedenen Erkenntnisse in kleinen Gesprächsgruppen vertieft. Zum Ausklang der Tagung wurde am Samstag in verteilten Gruppen an den ver schiedenen Kapiteln der geplanten Veröf fentlichung zum Berufseinstieg ins gymna siale Lehramt gearbeitet und die nächsten Tagungen inhaltlich vorbesprochen, bevor sich die Teilnehmer, beflügelt durch den persönlichen, professionellen und gleich zeitig freundschaftlichen Austausch, mit vielen Anregungen im Gepäck in ihre ei genen Bundesländer aufmachten. Miriam Plachta und Maximilian Röhricht

>> Die BPR-Fraktion des PhV BW (v.l.n.r.) : Martin Brenner, Alex Epp, Cornelia Schuster, Laura Schönfelder, Andrea Pilz, Beatrix Verse

Personalräteschulung Nordwürttemberg

A m 26. und 27. September 2024 führte die Bezirkspersonalratsfrakti on des Philologenverbandes Nordwürttemberg in der Ev. Akade mie Bad Boll eine intensive Schulung für örtliche Personalräte durch. Viele Kolleginnen und Kollegen sind neu in ihrem Amt und brauchen umfassende Informationen. Rechtliche Grundlagen, die Stel lung des Örtlichen Personalrats (ÖPR) und der Stufenpersonalräte, In formationen zu aktuellen Themen, auch aus dem Bezirkspersonalrat (BPR) und Hauptpersonalrat (HPR), aber vor allem die aktive Arbeit eines Örtlichen Personalrats vor Ort am Gymnasium waren die Themen bei dieser zweitägigen Schulung in schöner Umgebung. Dabei wurde sehr darauf Wert gelegt, dass die unterschiedlichen Statusgruppen Be amte und Arbeitnehmer genau beleuchtet wurden. Der gemeinsame Austausch aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer kam auch nicht zu kurz, unterstützt durch das großzügige kulinarische Angebot der Akademie in Bad Boll. Alex Epp, Mitglied der PhV-Fraktion im BPR Stuttgart, 2. Vorsitzender Bezirk Nordwürttemberg

>> Die Teilnehmenden an der Personalräteschulung Nordwürttemberg

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PhV BW zu G9

folgenden Monate, war das passende Instrument, um herauszufinden, wie wir uns unser Gymnasium wünschen würden. E-Mailzuschriften, Online Sitzungen und Präsenzformate zu des tillieren, einen ‘Roten Faden’ und ein verständliches Format für unsere Kommunikation mit politischen Ent scheidungsträgern zu finden, wurden eine wichtige Aufgabe für mich. Im Frühjahr 2024 hatten wir tatsächlich ein Konzept zu einem neuen G9: Das InNOVAtionsgymnasium! An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal bei allen herzlich bedan ken, die uns ihre Zeit und ihre Ideen in dieser kurzen, aber intensiven Pha se geschenkt haben! Ohne die Exper tise unserer Praktiker hätten wir diese Hürde nie rechtzeitig und qualitativ so hochwertig genommen! Jetzt lag alles auf dem Tisch: Eine Stundentafel und ein Konzept, das weit über die ‘Zeitfrage’ hinaus Ant worten und Lösungswege bereithält. Damit konnten wir in vielen Gesprä chen im Ministerium und mit Fraktio nen mehr als andere – ein Wortspiel für G neu(n) – bieten. Wie dringend unsere Ideen ge braucht wurden, wurde uns, die wir diese Gespräche führten, schnell klar. Das Kultusministerium schien kein ei genes Konzept aus der Schublade zie hen zu können. So bediente man sich gern bei uns. Nicht auszudenken, was gewesen wäre, wenn auch wir nichts hätten beisteuern können! Natürlich war uns klar, wie kritisch die Monate nach dem Scheitern des Volksantrags im Landtag werden wür den. Es gab zwar eine Zusicherung für einen Zeitplan und für ein Regie rungskonzept zu G9, aber wer sich wann wie einbringen und vielleicht auch durchsetzen könnte, blieb span nend. Erfolgreich waren wir schließlich zum Beispiel in Sachen verbindliche Stundentafel. Unser dringender Wunsch, endlose Sitzungen von allen möglichen Gremien der Schulen für die Verteilung von Wochenstunden zu verhindern, scheint größtenteils erfüllt zu werden. Bis auf die Pool stunden werden die Schulen wohl das Rad nicht x-fach neu erfinden müs

Wir gestalten Schule!

Foto: Dzmitry/AdobeStock

Seit meiner Wahl zur stellvertretenden Landesvorsitzenden in Wer nau diesen Sommer fragen mich Kolleginnen und Kollegen: Was machst du eigentlich im Philologenverband? – Meine Antwort? Zu sammen mit engagierten Mitstreiterinnen und Mitstreitern versuche ich, Schule für Schülerinnen und Schüler, aber natürlich auch für Lehrkräfte besser zu machen! Wie kann das gelingen? Vorbereitet sein, selbst wenn noch gar nicht sicher ist, dass der politische Ent scheidungsprozess in der ein oder anderen Sachfrage ansteht. Und ganz wichtig: Kolleginnen und Kollegen mit ihrer Expertise einbezie hen, Ideen bündeln und im richtigen Moment kommunizieren.

I ch bin ein großer Fan des Pluralis mus: Wenn es ihn nicht gäbe, müss ten wir ihn erfinden. Pluralismus ist zielführend und zeitgemäß. Interessen zu entwickeln, zu bündeln und schlag kräftig zu artikulieren ist die Idee, für den Erfolg braucht es aber noch eine Zutat: ein ‘Näschen’ für Chancen. Diesen politischen Instinkt haben wir in den vergangenen Jahren bewiesen. Lange vor dem Volksantrag zu G9 hatte die Auseinandersetzung des Phi lologenverbandes Baden-Württem berg mit der ‘Zeitfrage’ wieder an Fahrt aufgenommen. Ausgehend von unseren Erfahrungen als Kolleginnen und Kollegen wuchs das Bewusstsein: Wir als Verband wollen uns für G9 als Regelform stark machen. Um etwas Konkretes in der Hand zu haben, schien uns die Stundentafel für ein mögliches neues G9 zentral. In intensi ver Arbeit, zum Beispiel im bildungs politischen Arbeitskreis, wurde er dacht, wie gymnasiale Bildung in neun Jahren heute gestaltet werden könnte. Aktuelles Beispiel gefällig?

von Claudia Grimm stellvertretende Vorsitzende des Philologenverbandes Baden-Württemberg

Der Austausch mit dem Verband der Informatiklehrkräfte floss in unsere Überlegungen ein, wie auch gute Er fahrungen der jüngeren Zeit, wie zum Beispiel Klassenlehrerstunden. So lag unseren Gremien bereits ein Papier zur Abstimmung vor, als die Landes regierung sich noch im bildungspoliti schen Dornröschenschlaf befand. Mit sich abzeichnender Wirksam keit der Kampagne der Elterninitiati ve zu G9, der der Philologenverband Baden-Württemberg sehr wohlwol lend gegenüberstand, mussten auch wir einen weiteren inhaltlichen Schritt gehen. Also überlegte ich mir, wie wir kurzfristig und niederschwellig viele Kolleginnen und Kollegen für einen Prozess für ein innovatives G9 gewin nen könnten. Meine Idee, ‘Denk SCHULE’, so zeigte sich im Laufe der

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Umfrage

sen. Dranbleiben müssen wir, was die Anzahl der Klassenarbeiten in Hauptfächern anbelangt. Dreistün digkeit mit vier verbindlichen Klas senarbeiten zu kombinieren, dabei noch angemessen alle Anforderungs bereiche inklusive Operatoren zu be rücksichtigen, ist aus unserer Sicht wenig zielführend. Dies schafft eine Mehrbelastung für alle Beteiligten und sorgt letztlich für weniger Unter richtszeit. Insgesamt würde es sich lohnen, die Notenverordnung nicht nur sprachlich anzupassen, wie das Kultusministerium das bei Redak- tionsschluss wohl noch vorhatte, sondern weitergehend inhaltlich. Beispielsweise werden wir nicht nur in NwT Projektarbeit rechtlich ein wandfrei benoten können wollen. Wir sind schon stolz auf unseren ge wichtigen Anteil an Entscheidungen bei der Gestaltung der Schulreform. Als der zentrale Akteur für das Gym nasium werden wir bei politischen Entscheidungsträgern wahrgenom men. Dennoch sehen wir natürlich die Problemfelder. Die Fremdsprachen seien hier stellvertretend genannt. Aber bei allem, was uns an dem aktu ellen Bild, das von G9 entsteht, miss fällt – nicht auszudenken, wo wir ohne unser Konzept stehen würden! Wenn bestimmte Akteure noch mehr erhört worden wären, hätten wir keine Stär kung, sondern eine Schwächung gym nasialer Bildung. Weder das Niveau des Gymnasiums, erst recht nicht die Dreigliedrigkeit des Schulsystems sind für einige politische Handelnde dau erhaft gesichert. Deshalb müssen wir weiterkämpfen. Es ist vielleicht eine Schlacht gewonnen, gewiss mit Ver lusten, die uns gar nicht gefallen. Aber was uns noch bevorstehen könn te und dringend verhindert werden muss, ist die unerträgliche Phantasie von einem Zweisäulenmodell: Das Gymnasium und der Rest … Um es vorsichtig zu formulieren: Das Gymnasium hat nicht nur Freun de. Wir sind der einzige Verband, der für das Gymnasium einsteht. Weiter sagen! Sind wir zufrieden?

Foto: farland9/AdobeStock

Umfrage zu Corona-Lernrückständen im Schuljahr 2023/2024 Teilgenommen haben 320 Lehrkräfte. 1. 75 Prozent schätzen die Lernrückstände in ihren Klassen als hoch bis sehr hoch ein. Für die Einschätzung »sehr gering oder nicht vorhanden« votierten etwa 4 Prozent. 2. Bei den Jahrgängen, die am meisten betroffen sind, lässt sich eine Steigerung von Klasse 5 bis 10 beobachten: Klasse 5: 28,0 Prozent, Klasse 6: 30,9 Prozent, Klasse 7: 32,5 Prozent, Klasse 8: 40,6 Prozent, Klasse 9: 45,9 Prozent Klasse 10: 50,6 Prozent Kursstufe 1: 44,3 Prozent Kursstufe 2: 19,0 Prozent (hier gab es vermutlich Abgänge der betroffenen Schülerinnen und Schüler) 3. Die psychosozialen Probleme sind aus Sicht der Kolleginnen und Kollegen gleich geblieben, haben sich verschlechtert oder sogar sehr verschlechtert ( 77,1 Prozent ). 4. 60,1 Prozent sehen einen Bedarf an psychosozialer Unterstützung für durchschnittlich 1 bis 3 Schülerinnen und Schüler pro Klasse, 7,2 Prozent sogar für mehr als 6 Kinder bzw. Jugendliche pro Klasse. 5. 68,7 Prozent der Befragten schätzen ihren Arbeitsaufwand aufgrund dieser psychosozialen Probleme als hoch bis sehr hoch ein. 6. Die persönliche Belastung der Lehrkräfte durch Lernrückstände betrachten 66,4 Prozent als hoch bis sehr hoch. 7. Die persönliche Belastung durch Zeitmangel am Ende des Schuljahres sehen etwa 90 Prozent . 8. 45,5 Prozent der Befragten geben an, dass mehr Schülerinnen und Schüler das Gymnasium verlassen als vor der Pandemie. 9. Etwa 58 Prozent beobachten vermehrt Prüfungsangst bei schriftlichen Prüfungen, etwa 52 Prozent Schulangst, etwa 74 Prozent Absentismus und 26 Prozent Essstörungen im Vergleich zu früheren Jahrgängen. 10. Auf die Frage nach möglichen Lösungen nannten 55,9 Prozent zusätzli che Lehrerwochenstunden und individuelle Fördermaßnahmen, etwa 57 Prozent nannten G9, nur 27,5 Prozent waren für die Fortführung des Rückenwindprogramms. Andrea Pilz

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Bildungspolitischer Arbeitskreis

Abitur, G9 und Ergebnisse der Umfrage zu Corona-Lernrückständen

neue Konzepte für die Bewertung von Schülerleistungen (Notenbildungsver ordnung) und eine Handreichung zum Umgang mit KI im Bildungsbereich notwendig. Erste Ergebnisse der Umfrage zu den Coronarückständen wurden im BAK präsentiert. An der Umfrage nahmen mehr als 300 Lehrkräfte teil. Die Lernrückstände, die durch die Coronapandemie entstanden sind, werden von drei Viertel der Befragten als sehr hoch bis hoch eingeschätzt. Große Lernrückstände finden sich in allen Klassenstufen. Bei vielen Schü lerinnen und Schülern ist seit der Pan demie psychosoziale Unterstützung notwendig. Handelte es sich vor der Pandemie um Einzelfälle in der Klas sengemeinschaft, so sind jetzt deutlich mehr Schülerinnen und Schüler von psychosozialen Problemen betroffen. Dies führt zu einem erheblichen Ar beitsaufwand für die betreuenden Lehrkräfte. Neu sind auch zahlreiche Fälle von Absentismus und Prüfungs ängste bei schriftlichen und mündli chen Prüfungsformaten. Am Ende der Sitzung wurden Anke Lohrberg und Wolfgang Buh mann, zwei langjährige Mitglieder des Arbeitskreises, verabschiedet. Der BAK bedankte sich für die viel fältigen Impulse und langjährige Treue mit einem kleinen Präsent und wünschte den beiden Kollegen viel Freude bei ihren neuen Aufgabenbe reichen. Wir danken allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für die engagierte bildungspolitische Diskussion zu Be ginn der Sommerferien und freuen uns auf die künftigen BAK-Sitzungen. Interessierte können sich schon den Termin im nächsten Jahr als ‘Save the date’ vormerken. Nächster BAK in den Sommerferien: Freitag, 1. August 2025 von 10:00 bis 14:00 Uhr in der Landesgeschäftsstelle in Stuttgart. Andrea Pilz und Stefanie Wölz, Referat Bildungspolitik

>> Die Teilnehmenden am BAK (v.l.n.r.) : Christian Unger, Ralf Rohrschneider, Katja Wassermann, Wolfgang Buhmann, Anke Lohrberg, Andrea Pilz und in der unteren Reihe Martina Scherer, Claudia Grimm, Karin Fetzner sowie Stefanie Wölz

A m 26. Juli 2024 tagte der Bil dungspolitische Arbeitskreis (BAK) in der Landesgeschäfts stelle in Stuttgart zu zahlreichen bil dungspolitischen Themen. Zunächst wurde der Antrag des erweiterten Be zirksvorstands Südbaden von der Ver treterversammlung 2023 zum Abitur in MINT-Fächern ausführlich disku tiert. Hintergrund des Antrags waren ein befürchteter Lehrkräftemangel in MINT-Fächern und die Problematik, dass die Kurse besucht, aber nicht ab gerechnet werden müssen und deswe gen die Schülerinnen und Schüler we nig motiviert sind. Es entstand die Idee, dass zwei Naturwissenschaften und eine Fremdsprache oder zwei Fremdsprachen und eine Naturwis senschaft künftig durch eine Natur wissenschaft und eine Fremdsprache ersetzt werden sollten. Der Vorschlag, der sich in vier Teilbereiche gliederte, fand im BAK keine Zustimmung. Die Problematik, dass Schülerinnen und

Schüler Kurse belegen müssen und diese nicht abrechnen können, könnte durch eine flexibler gestaltete Ab rechnungsmöglichkeit gelöst werden (sofern diese KMK-konform wäre). Hintergrund des Kompromissvor schlags wäre, dass in der zweiten Na turwissenschaft oder in der zweiten Fremdsprache die jeweils besten Kur se abgerechnet werden könnten. Viel leicht könnte diese Maßnahme die Motivation der Schülerinnen und Schüler in einzelnen Kurshalbjahren erhöhen. Das Positionspapier zur Digitalisie rung im Bildungsbereich wird gerade in einer Arbeitsgruppe, die sich aus Mitgliedern des bildungspolitischen und berufspolitischen Arbeitskreises zusammensetzt, überarbeitet. Für das neue Kapitel zum Thema KI im Bil dungsbereich wurden Ideen und Im pulse des BAK aufgegriffen. Nach Auffassung der Diskussionsteilneh merinnen und -teilnehmer sind auch

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Landesbildungsserver

Der PhV BW trifft …

Der PhV BW trifft … Der Philologenverband Baden Württemberg auf der Sitzung des Bundesvorstands des DPhV (Deutscher Philologenverband) am 8. und 9. November in Ko blenz.

Achtung – Wichtig! Warnung vor Abschaltung des Landesbildungsserver

Liebe Kolleginnen und Kollegen, haben Sie in den letzten Jahren Materialien des Landesbildungs servers genutzt? Haben Sie zum Beispiel Materialien aus dem un erschöpflichen Bereich der Lan deskunde benutzt oder haben Sie deutsch-bw.de, geschichte-bw.de, physik-bw.de oder eines der vielen anderen Fachportale zur Unter richtsvorbereitung verwendet? Dann empfehlen wir Ihnen, dass Sie die Materialien, die zur Zeit noch im Internet für Sie bereitlie gen, baldmöglichst auf einem für Sie zugänglichen Speicherplatz sichern. In absehbarer Zeit werden diese Materialien entweder auf den neu en Bildungsserver Baden-Würt temberg (BSBW) migriert oder zu künftig nicht mehr verfügbar sein. Die Kriterien, die für eine Migrati on erfüllt werden müssen, sind al lerdings so ‘anspruchsvoll’ (vor al lem im Hinblick auf technische Fragen wie Barrierefreiheit der Darstellung und Urheberrechts nachweise), dass nach Ansicht vieler Experten etwa 95 Prozent der Materialien nicht als migrati onsfähig identifiziert werden dürf ten. Im Gegensatz zu gedruckten Un terrichtsmaterialien sind diese Materialien dann tatsächlich von einem Tag auf den anderen schlicht nicht mehr zugänglich. Um das Ausmaß des Verlustes zu Warum?

Geschichte sind es 10226 Einträ ge respektive Files, im Fachportal Landesgeschichte/Landeskunde 27673. Einzelne Landesfachteams schei nen sich mit Protestnoten an die Verantwortlichen gewandt zu ha ben, weil dadurch ein erheblicher und wichtiger Teil des fachdidakti schen Unterstützungsapparats, zum Beispiel auch von Fortbildun gen, verschwinden würde. Ob die se Protestnoten zu einem Ergeb nis führen werden, ist allerdings mehr als ungewiss. Einzelne Redaktionen wie die der Landeskunde haben insofern ei nen Ausweg gefunden, als die Ma terialien von den zuständigen Re gionalverantwortlichen der Lan deskunde bzw. dem Kompetenz zentrum für geschichtliche Lan deskunde im Unterricht gesichert wurden und Lehrkräften auf Anfra ge zugänglich gemacht werden können. Sonst würde ein Allein stellungsmerkmal der baden- württembergischen Bildungsland schaft von heute auf morgen verschwinden. Die Fachredaktionen der einzel nen Schulfächer sind dazu aber nicht in der Lage, d.h. die Materia lien werden unwiderruflich ver schwinden. Wenn Sie auf die Ma terialien über Ihr Schul-Moodle verlinkt haben, werden diese Links ins Leere laufen. Wenn Ih nen diese Materialien wichtig wa ren, sichern Sie sie, solange es noch möglich ist! Dieter Grupp,

>> Martina Scherer (Landesvorsitzende des Philologenverbandes Baden Württemberg) und Susanne Lin- Klitzing (Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes) in Koblenz

>> Die Teilnehmenden an der Sitzung des Bundesvorstands des Deut schen Philologenverbandes

Einladung zur Regionalversammlung ‘Obere Donau’ Datum: Montag, 10. März 2025 Zeit: 16:00 bis 18:00 Uhr Ort: Restaurant Rosengarten Gammertinger Straße 25 88499 Riedlingen

verdeutlichen, seien hier zwei Zahlen genannt: Im Fachportal

Referent für Fortbildungsfragen des Bezirks Südwürttemberg

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Aktuelles aus dem Hauptpersonalrat Gymnasien

Für Sie im HPR Gymnasien beim KM | Für Sie im HPR Gymnasien beim KM | Für Sie im HPR Gymnasien

Jörg Sobora Vorsitzender

Andrea Pilz Vorstandsmitglied

Claudia Grimm

Martina Scherer

Jürgen Harich

Enver Groß

Anne Käßbohrer

Cord Santelmann

Anne-Elise Kiehn

Björn Sieper

Stefanie Wölz

Konrad Oberdörfer

Stufenpersonalräte schulung des Philologenverbandes A m 30. September 2024 trafen sich die Haupt- und Bezirksper sonalräte des Philologenverban des Baden-Württemberg in der Sparkassenakademie in Stuttgart zur Stufenpersonalräteschulung unter der Leitung von Jörg Sobora, dem Vorstandsvorsitzenden des Hauptpersonalrats Gymnasien im Kultusministerium. Dabei wurden zahlreiche aktuelle Themen be sprochen und die Stufenpersonal räte in ihren Funktionen auf den unterschiedlichen Personalrats ebenen des Hauptpersonalrats Gymnasien im Kultusministerium und der vier Bezirkspersonalräte in den Regierungspräsidien ge schult, wovon besonders auch die neu gewählten Stufenpersonal- räte stark profitieren konnten. Enver Groß, Mitglied im HPR und Schriftleiter von Gymnasium Baden-Württemberg

>> Die Teilnehmenden an der Stufenpersonalräteschulung in Stuttgart

>> v.l.n.r.: Martina Scherer (Landesvorsitzende des PhV BW), Jörg Sobora sowie Jürgen Harich (Arbeitnehmervertreter) mit Ursula Kampf (ehe malige Arbeitnehmervertreterin)

>> Jörg Sobora leitete die Schulung

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Stellungnahme

Stellungnahme des IBBW zum Artikel ‘Wohlfühlpädagogik mit Nebenwirkungen’ von Cord Santelmann in Heft GBW 7-8/2024

Zum Hintergrund In der Ausgabe 7-8/2024 von ‘Gymnasium Baden-Württem berg’ ist ein Artikel von Herrn Cord Santelmann erschienen, in dem Inhalte und Nutzen der Zen tralen Erhebungen grundlegend in Frage gestellt wurden. Es ist uns ein Anliegen, nachfolgend auf einige Kritikpunkte des Artikels einzugehen und ent- haltene Aussagen richtigzustellen. Für einen fundierten Einblick in die Zentralen Erhebungen hin sichtlich ihrer Zielsetzung, Durch führung und Ergebnisrückmel dungen empfehlen wir darüber hinaus die Lektüre des Artikels des IBBW zu den Zentralen Erhe bungen, den wir dem Philologen verband zum Abdruck in GBW angeboten hatten und der auf der IBBW-Homepage verfügbar ist. Warum werden die Zentralen Erhebungen vom IBBW durch geführt? Herr Santelmann zweifelt an, dass die Durchführung der Zentralen Er hebungen in einem standardisierten Verfahren durch das IBBW sinnvoll ist. Dem möchten wir widersprechen. Für eine systematische datengestütz te Qualitätsentwicklung ist es von ho her Bedeutung, nicht nur die Ergeb nisse (zum Beispiel in Form von Lernstandserhebungen) der schuli schen Arbeit, sondern auch die Pro zessebene – also das eigentliche Handlungsfeld der Schule – in den Blick zu nehmen. Denn die schuli

Rückmeldungen zur wahrge nommenen Unterrichtspraxis Die im Artikel von Herrn Santelmann geäußerte Sorge vor der ‘Rollenum kehr’ zwischen Schülerschaft und Lehrkraft hinsichtlich der Bewertung entspricht aus unserer Sicht nicht der Realität und der generellen Einschät zung von Lehrkräften. Vielmehr sind wir davon überzeugt, dass Lehrkräfte den Nutzen von Rückmeldungen aus Schülersicht erkennen, um die Pas sung ihres Unterrichtsangebots einzu schätzen. Schülerinnen und Schüler sind Expertinnen und Experten für ihr Lernen. Sie können, das zeigen be lastbare empirische Befunde, wertvol les Feedback zu ihrem Unterrichtser leben geben. Zentral ist die Bespre chung der Ergebnisse mit der Klasse, dabei können beispielsweise folgende Aspekte betrachtet werden: Gab es große Unterschiede in der Einschät zung innerhalb der Klasse? Welche

schen Prozesse stellen den wesentli chen Einflussbereich der Schule dar, um das Lernen der Schülerinnen und Schüler zu fördern. Mit den Zentra len Erhebungen werden regelmäßig diejenigen Aspekte in den Blick ge nommen, deren zentrale Wirkung auf das Lernen wissenschaftlich belegt ist (zum Beispiel Basisdimensionen Un terrichtsqualität). Dies gelingt durch die Verwendung erprobter und vali dierter Skalen, die eine hohe Messge nauigkeit und Datenqualität sicher stellen. Die zentrale Durchführung ermöglicht es zudem, die eigenen Er gebnisse durch Vergleichswerte ein zuordnen, was für die Interpretation der Daten unerlässlich ist. Das IBBW entlastet die Schulen durch die Orga nisation der Zentralen Erhebungen, die technische Bereitstellung der Be fragungen und den automatisierten Versand der detaillierten Ergebnis rückmeldungen.

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Stellungnahme

Gründe kann es dafür geben? Wur den einzelne Fragen von allen Schüle rinnen und Schülern eher negativ be urteilt? Wie kann der Unterricht pass genauer gestaltet werden, um den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler langfristig zu verbessern? Die Zentralen Erhebungen stellen die lernförderliche Qualität des Unter richts in den Mittelpunkt und tragen damit entscheidend zum Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler bei. Sie helfen, Entscheidungen zur Weiter entwicklung des Unterrichts auf der Basis von Daten zu treffen. Wir haben Vertrauen, dass Lehr kräfte einordnen können, dass es sich bei diesen Rückmeldungen immer um eine Momentaufnahme handelt, die das Zusammenspiel zwischen der je weiligen Klasse im jeweiligen Fach mit der jeweiligen Lehrkraft darstellt. Pä dagoginnen und Pädagogen ist be wusst, dass sich die Ergebnisse in an deren Kontexten (mit anderen Klas sen, in anderen Fächern, zu anderen Zeitpunkten) anders darstellen kön nen und sich zudem durch passende Maßnahmen ändern lassen. Dies liegt in der Natur solcher Rückmeldungen und macht deutlich, dass es hier nicht um eine Bewertung oder um ein ‘Zeugnis’ für die Lehrkraft gehen kann – sondern die lernförderliche Qualität des ausgewählten Unterrichts aus Sicht der Schülerinnen und Schü ler im Fokus steht. Dafür stellen die Zentralen Erhebungen Daten bereit. Rückmeldungen zum schul- bezogenen Wohlbefinden Ein weiterer zu kommentierender Punkt ist das Missverständnis um die ‘Wohlfühlpädagogik’. Im Rahmen der Zentralen Erhebungen geht es nicht um Komfortzonen, es werden Skalen zum schulbezogenen Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler einge setzt. Das schulbezogene Wohlbefin den – dass die Schule als positiv be setzter Ort mit einer angstfreien Lern atmosphäre wahrgenommen wird – ist wissenschaftlich belegt (und sicherlich übereinstimmend mit der Wahrneh mung von Pädagoginnen und Pädago gen) eine essentielle Voraussetzung

Foto: Anna/AdobeStock

dafür, dass Lernen überhaupt stattfin det. Es ist damit ein zentraler Faktor für Bildungserfolg. Im Dialog des IBBW mit Lehrkräften ist daher völ lig zurecht eingefordert worden, dass sich die im Rahmen der datengestütz ten Qualitätsentwicklung betrachteten schulischen Ergebnisse nicht nur auf Leistungen, sondern auch auf über fachliche Aspekte wie das schulbezo gene Wohlbefinden beziehen. In den Zentralen Erhebungen ste hen dezidiert nicht einzelne Lehrkräf te im Fokus, sondern das Verhältnis der einzelnen Schülerin bzw. des ein zelnen Schülers zur Schulgemein schaft, zur Gruppe der Lehrkräfte so wie innerhalb der eigenen Klasse. Für die im Artikel von Herrn Santelmann aufgestellte These der »Denunziation von Fehlverhalten der Lehrkräfte durch die Schüler« gibt es daher aus unserer Sicht keine Grundlage. Auch die Vorstellung, dass Wohl befinden nicht mit Anstrengungsbe reitschaft zusammenpasst, zeichnet ein Bild der gymnasialen Pädagogik, welches unserer Erfahrung nach der Realität an den baden-württembergi schen Gymnasien nicht gerecht wird. Fast ein Drittel aller Gymnasien hat 2024 freiwillig an den Zentralen Erhe bungen teilgenommen und sich hierü ber Rückmeldungen ihrer Schülerin nen und Schüler zum schulbezogenen Wohlbefinden und zur wahrgenom menen Unterrichtspraxis im Fach Ma thematik eingeholt – eine höhere Be

teiligung als in allen anderen Schular ten. Dies lässt uns zuversichtlich dem nächsten Durchgang im Frühjahr 2025 entgegenblicken. Dr. Ingola Mohr und Dr. Ulrike Rangel Zur Info Zentrale Erhebungen Mit wissenschaftlich fundierten und praxisrelevanten Befragun gen für Schülerinnen und Schüler ohne großen Aufwand zentrale Bereiche von Schul- und Unter richtsqualität beleuchten: Das sind die Zentralen Erhebungen. Im Mai/Juni 2024 haben am zweiten, freiwilligen Durchgang über 46000 Schülerinnen und Schüler aus den Jahrgangsstufen 3, 6 und 8 teilgenommen. Erfasst wurde die wahrgenommene Unterrichtspraxis im Fach Mathe matik sowie das schulbezogene Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler. Alle Schulen erhiel ten unmittelbar nach Ende des Befragungszeitraums detaillierte

Ergebnisrückmeldungen. Die Daten wurden in aggregierter Form im Schuldatenblatt auf- genommen. Ansprechpartnerin für Zentrale Erhebungen: Dr. Ingola Mohr Ingola.Mohr@ibbw.kv.bwl.de

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Vortrag

BBW Tarifunion: Vortragsreihe ‘Begegnungen’ Die 4-Tage-Woche im öffentlichen Dienst

Die Art und Weise, wie wir arbeiten, unterliegt einem permanenten Wandel, der von technologischen Fortschritten, soziokulturellen Ver änderungen und neuen Managementansätzen beeinflusst wird. Ei ne Entwicklung in diesem Bereich, beschleunigt durch die Covid-19 Pandemie, ist die Einführung der 4-Tage-Woche – ein Arbeitszeitmo dell, bei dem ein Tag weniger gearbeitet wird. Es zielt darauf ab, die Arbeitszeit zu verkürzen, ohne die Produktivität zu verringern, und gleichzeitig das Wohlbefinden der Arbeitnehmer zu steigern.

geberattraktivität zu erhöhen, die Ge sundheit der Beschäftigten zu verbes sern und den Umsatz zu steigern. Ne ben den positiven Auswirkungen nahm die Referentin das Arbeitszeit modell auch kritisch in den Blick: So stelle sich beispielsweise die Frage, ob Deutschland angesichts der Arbeits zeitverkürzung im Vergleich zu ande ren Ländern wie China noch wettbe werbsfähig sei. Auch sei zu hinterfra gen, wie nachhaltig die Effekte einer Arbeitszeitverkürzung seien – forder ten Mitarbeiter nach einer Implemen tierung der 4-Tage-Woche dann eine 3-Tage-Woche? Obwohl die konkreten Ergebnisse der Studie derzeit noch ausgewertet werden, gab Professorin Backmann dem Publikum einen Einblick in erste vorläufige Erkenntnisse. So verlaufe die Umsetzung der 4-Tage-Woche branchenspezifisch: In Büroberufen funktioniere die Umstellung leichter, im Bereich der Produktion sei sie he rausfordernder. In sozialen Einrich tungen habe die Umstellung erstaun lich gut funktioniert. Die Art und Weise, wie die teilneh menden Unternehmen die 4-Tage Woche umsetzen, variiere sehr stark: Das häufigste Modell sei eine Arbeits zeitreduzierung um zehn Prozent und eine Umverteilung der Arbeitszeit von Montag bis Donnerstag. In eini gen Firmen konnte die Arbeitszeitver kürzung jedoch noch nicht vollum fänglich umgesetzt werden, unter an derem weil detaillierte Anpassungen der Arbeitsabläufe vor der Umstel lung auf vier Arbeitstage nicht klar festgelegt worden seien. Prozessver besserungen konnten daher nicht di rekt erreicht werden. Im Zuge der Umstellung wurden verschiedene be triebsinterne Abläufe angepasst, etwa Häufigkeit, Dauer und Agenda von Meetings, das Kommunikationsver halten wurde verändert und digitale Tools zur Optimierung der Arbeitsab läufe eingeführt. Das Arbeitszeitmo dell sei von den Beschäftigten sowohl

D ie Arbeitszeitgestaltung wird zu nehmend zu einem entscheiden den Faktor für die Attraktivität von Arbeitsplätzen und ist deshalb auch für den öffentlichen Dienst in Baden-Württemberg von Bedeutung, da hier der Personalmangel ein Re kordniveau erreicht hat. Der BBW Beamtenbund Tarifunion lud im Rah men seiner Vortragsreihe ‘Begegnun gen’ am 26. September 2024 zu einem spannenden Austausch über die 4-Ta ge-Woche im öffentlichen Dienst ein. Als renommierte Experten konnte der BBW dafür Prof. Dr. Julia Back mann von der Universität Münster und Veit Hailperin, Experte aus Zü rich und Dozent am CG Jung Institut in Küsnacht, gewinnen. In seiner Begrüßung betonte der BBW-Landesvorsitzende Kai Rosen berger den besonderen Stellenwert der 4-Tage-Woche sowohl als Werk zeug zur Rekrutierung qualifizierter Fach- und Nachwuchskräfte als auch zur Steigerung der Attraktivität des öffentlichen Dienstes in Baden-Würt temberg.

Prof. Dr. Julia Backmann erläuterte anschließend die Chancen und He rausforderungen der 4-Tage-Woche aus wissenschaftlicher Perspektive: Sie und ihr Team an der Universität Münster führen derzeit eine deutsch landweite Studie zu den Auswirkun gen dieses Arbeitszeitmodells durch. 43 Unternehmen sind daran beteiligt, darunter vor allem kleine Betriebe mit 10 bis 49 Beschäftigten, gefolgt von mittelgroßen Unternehmen mit 50 bis 249 Mitarbeitenden. Es handelt sich mehrheitlich um Unternehmen aus der Beratungs- und Dienstleis tungsbranche. Die Wochenarbeitszeit sei schon immer ein polarisierendes Thema gewesen, stellte die Referentin fest. Deutschland liege mit einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 34,7 Stunden im Jahr 2022 im un teren Mittelfeld, während Spitzenrei ter Griechenland eine Wochenarbeits zeit von 41 Stunden aufweise. Deut lich geringer sei die Arbeitszeit der er werbstätigen Frauen. Befürworter sehen in der 4-Tage Woche eine Möglichkeit, die Arbeit

>> Kai Rosenberger bedankt sich bei den Referenten Prof. Dr. Julia Backmann und Veit Hailperin (v.l.n.r.)

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Vortrag

Der PhV BW trifft …

Der Philologenverband Baden-Württemberg trifft …

positiv als auch negativ wahrgenommen worden, so die Referentin. Insgesamt seien die Ergebnisse der Studie sehr heterogen. Ein positiver Ef fekt der 4-Tage-Woche sei eine Effi zienzsteigerung, da Prozesse überdacht und umstrukturiert würden, was zu einer Optimierung der Arbeitsabläufe führe. Eine gleichbleibende Produktivität bei verkürzter Arbeitszeit konnte jedoch nicht bei allen Beteiligten erreicht wer den. Bereits seit einigen Jahren wird die 4 Tage-Woche europaweit pilotiert. Der Schweizer Arbeitsexperte Veit Hailperin berichtete in seinem anschließenden Vortrag von seinen umfangreichen Er fahrungen mit europäischen Unterneh men, welche die 4-Tage-Woche bereits erfolgreich eingeführt haben. Nach einer Testphase blieben die meisten Firmen bei der 4-Tage-Woche, da die positiven Effekte überwiegen wür den, darunter eine verbesserte emotiona le, mentale und physische Gesundheit der Mitarbeitenden und eine Reduktion von Stress und Burnout. Die 4-Tage-Woche sei jedoch kein Selbstläufer – es gelte viele Stolpersteine zu beseitigen. Unternehmen, die dieses Arbeitszeitmodell anbieten, forderten von ihren Beschäftigten zusätzlich eine Produktivitäts- und Effizienzsteigerung, um den Output zu halten oder zu erhö hen. Der entscheidende Erfolgsfaktor für eine Arbeitszeitverkürzung nach dem 4 Tage-Prinzip sei das Vertrauen des Ar beitgebers in die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und in deren Eigenverant wortung für den gemeinsamen Erfolg, so das Resümee des Experten. Im Anschluss an beide Vorträge hat ten die Gäste Gelegenheit, gemeinsam mit den Referenten über Möglichkeiten und Vorteile der 4-Tage-Woche im öf fentlichen Dienst zu diskutieren. Dabei stellte sich die Frage, ob die Chance besteht, dieses Arbeitszeitmodell auch im schulischen Bereich zu realisie ren. Hier sehen die Referenten derzeit keine konkreten Umsetzungsmöglichkei ten: Es müssten alternative Angebote für Lehrkräfte geschaffen werden, die eine individuelle Entlastung bewirkten, wie zum Beispiel pädagogische Assistenten. Désirée Reidel

… beim Landtagsfest der Grünen

… den Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann

… und den MdL Bernd Mettenleiter , ebenfalls Die Grünen

… den Städtetag Der Philologenverband Baden- Württemberg hat die Anliegen und Bedenken für das Gymnasium an den Städtetag herangetragen. Themen waren unter anderem die Stundentafel oder Schulstandorte. >> v.l.n.r.: Claudia Grimm, Martina Scherer und Norbert Brugger

… den Landes

schülerbeirat Der Philologenverband Baden- Württemberg traf am Freitag, dem 11. Oktober 2024 den Landesschülerbeirat. >> v.l.n.r.: Joshua Meisel, Vorsitzender des Landesschülerbeirats, mit Stefanie Schrutz und Martina Scherer

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Gastbeitrag

IMPRESSUM Die Zeitung ‘Gymnasium Ba den-Württemberg’ erscheint sechsmal im Jahr. Der Bezugs preis für Mitglieder des PhV ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Bezugspreis für Nichtmitglieder pro Einzelheft ‘Gymnasium Ba den-Württemberg’ (inklusive der DPhV-Zeitschrift ‘Profil’) be trägt 3,– Euro und für ein Jah resabonnement 18,– Euro zu züglich Versandkosten. Der Be trag wird durch Vorauszahlung jeweils im Dezember erhoben. Redaktion: Schriftleiter: Enver Groß [E.G.] enver.gross@phv-bw.de Pfannenstiel 34 88214 Ravensburg Redaktionsteam:

Antisemitismus an Schulen in Deutschland? D ie öffentliche Wahrnehmung von Anti semitismus (AS) hat sich seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. durchaus auch widersprüchliche Annahmen über vermeintliche kollektive Eigenschaften zwecks Abwertung bemüht (z.B. Geldgier, Verlogen heit). »Als diffuses Gefühl … der Ablehnung, … der tieferliegenden irrationalen, oft unbewussten Feindseligkeit« strukturiert AS die Wahrneh mung der Welt (38). Mithin manifestiert AS sich als Ressentiment und Weltanschauung (478).

Oktober 2023 in Teilen der deutschen Gesell schaft verändert. Während bis dahin konsta tierter AS und damit dessen Wahrnehmung der davon Betroffenen leicht infrage gestellt wurde, bestreiten einige dessen Vorhanden sein nicht mehr. Er ist auch nicht zu leugnen, wie sich etwa als ‘propalästinensisch’ darstellende Demonstratio nen deutscher Staatsbürger*innen an hiesigen Universitäten mit eindeutig antisemitischen In halten zeigen und zwar nicht erst, wenn sie die Auslöschung Israels fordern. Und AS im Schul bereich? – »Das gibt es doch gar nicht«, denken manche. Die Soziologieprofessorin Julia Bernstein leg te dazu die Untersuchung ‘Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde – Analysen – Handlungsoptionen, Weinheim 2020’ vor (Sei tenangaben nach dieser Ausgabe; auch bei BpB erschienen). Die Studie beruht auf Interviews mit jüdischen Schüler*innen, ihren Eltern sowie (nicht)jüdischen Lehrkräften und nimmt deren Sichtweise ernst. Das zentrale Ergebnis: Für Betroffene stellt sich AS an Schulen »als ‘Normalzustand’ dar« (480, vgl. 137, 147, 151, 479, 575, 578). Die 600 Seiten starke Studie, die das belegt, definiert AS und legt seine Erscheinungsformen wie seine Verbreitung dar; daraufhin präsentiert sie For schungsbefunde bezogen auf die Perspektive der betroffenen Schüler*innen wie Lehrkräfte (84). Vor allem analysiert sie die Themen ‘Israelbezo gener AS’, ‘AS und Rassismus’ sowie ‘Echos’ der Zeit von 1933 bis 1945 – gefolgt von Hand lungsempfehlungen. Manche*r wendet ein, es sei überzogen, in der Schule von AS zu reden und in jeder Form von ‘Kritik an’ / ‘Scherzen über’ / ‘Gewalt an’ Jüd*in nen AS zu sehen, z.B. weil man angeblich gar nicht genau wisse, was AS sei. Bernstein arbeitet mit einer klaren Definition: »AS ist ein Phänomen, das sämtliche Formen der Judenfeindschaft umfasst« und die »sich über Jahrhunderte in verschiedenen Erscheinungsfor men entwickelt« (36). Unabhängig vom Tun der Jüd*innen imaginiert der AS ein Bild von ihnen als Kollektiv und seine eigene Wirklichkeit, die alle gesellschaftlichen Übel Jüd*innen zuschreibt (36, 482). In dieser ‘Logik’ werden eigene as Handlungen als Gegenwehr gegen die als Ag gressor dämonisierten Jüd*innen legitimiert. Da rum entwickelt AS sich als Gewalt gegen Jüd*in nen, die ihren Alltag bedroht. Diese speist sich aus einem alltäglichen AS, mit dem Jüd*innen »auf eine gesellschaftliche Position ‘absoluter Andersartigkeit’ festgelegt werden« (37). Um diese herzuleiten, werden falsche, generalisierte,

Die Kontinuität des AS »in der Entwicklung seiner Erscheinungsformen« (43) bis heute zeigt sich im religiös motivierten und sozio-kulturell bestimmten Ressentiment etwa, wenn Schüler*innen und Eltern für die (historisch fal sche) Aussage, »die Juden« seien schuld am Tod Jesu, eine gute Note für mündliche Mitarbeit er warten, oder wenn dieser Vorwurf im Religions unterricht in Filmen wie ‘Die Passion’ von Mell Gibson als (falsches!) Wissen aufgefrischt wird. Wenn auf die Widerlegung des Gottesmord vorwurfes hin darauf verwiesen wird, »was die Juden heute den Palästinensern antun« (47), wird der religiös begründete AS mit dem israel bezogenen verknüpft, in dem Feindbilder aktua lisiert werden. Dabei wirkt der auf die Ritual mordphantasie (46) zurückgreifende Vorwurf, ‘Israel’ sei ein ‘Kindermörder’, stigmatisierend (65). Diese Anfeindung diskreditiert Jüd*innen persönlich nicht erst, wenn sie zu »Repäsentant*innen Israels gemacht werden« (201, vgl. 209). Dieser AS bewertet Israel nach Maßstäben, die an andere Staaten nicht angelegt werden, er dämonisiert Israel und setzt es mit nationalsozia listischem Handeln gleich – mit dem Ziel, Israel nationale Selbstbestimmung und Existenzrecht abzusprechen (203-4). Lehrkräfte erkennen die sen AS oft nicht oder rechtfertigen ihn als soge nannte ‘Israelkritik’ (209). Anstatt AS zu bagatellisieren, indem er mit Rassismus gleichgesetzt und als rein geschichtli ches Phänomen abgetan wird, das mit Gedenk stättenbesuch ‘ausgeglichen’ ist (289, 462, 482), gilt es, empathisch »die Position der Betroffenen [zu] stärken und jüdische Identität an[zu]erken nen« (434, vgl. 469), Widerstände gegen die The matisierung von AS zu überwinden und ein offe nes Gespräch über AS auf Augenhöhe zu er möglichen (482). Zumindest die

Sabine Grobe [S.G.] Helmut Hauser [H.H.] Bettina Hölscher [HL] Edelgard Jauch [E.J.] Anne Käßbohrer [A.K.] Richard Zöller [R.Z.] Herausgeber: Philologenverband Baden-Württemberg Alexanderstraße 112 70180 Stuttgart Tel.: 0711 2396250 Fax: 0711 2396277

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Zusammenfassung dieser Studie unter https://www.bpb.de/ system/files/dokument _pdf/APuZ_2020-26-27 _online.pdf sollte auf den einschlägigen Web sites der Schulbehör den und Lehrkräftever bände selbstverständ

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GBW 11-12/2024 15

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Norbert Schmeiser

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