Blickpunkt Schule 4/2023
Mythos Abitur?
tragen, die gute Schüler wiederum leicht überspringen. Die Forderung nach mehr Bildungsgerechtigkeit führ te bei Lehrkräften oft zu Verunsiche rungen, stärker als früher lassen sie sich von sozialen, weniger von Leis tungskriterien leiten und achten auf ‘wohltemperierte‘ Ansprüche. Politische Signale an die Oberstufen kamen vor einigen Jahren aus der Kul tusministerkonferenz (KMK). Im bun desweiten Zusammenspiel der Kultus minister wurde die Umrechnung von Prozentwerten in Notenpunkte günsti ger geregelt, das heißt, 85 Prozent rei chen bereits aus für eine 1 minus, eine ausreichende Note bekommt man mit 45 Prozentpunkten. Sollte man nicht eher 50 Prozent für eine positive Note verlangen und 95 Prozent für eine glat te 1? Außerdem wurde die Bewertung der ‘Verstöße gegen die sprachliche Richtigkeit in der deutschen Sprache’ in Deutscharbeiten insofern abgemildert, als bei gravierenden Mängeln nur noch ein Abzug von maximal zwei Noten punkten verlangt wird (vorher waren es bis zu vier). Zudem beeinflussen Vorgaben zu einem ‘kompetenzorientierten Unter richt‘ die fachliche Bildung. Das Ler nen soll gelernt, Kompetenzen sollen eingeübt werden; dagegen ist nichts einzuwenden, solange die Fachinhalte nicht auf der Strecke bleiben. Es er öffnen sich jedoch Spielräume für ‘in haltsdünnes‘ Arbeiten, wenn zum Bei spiel statt ganzer literarischer Werke nur noch Auszüge vorgelegt werden. In der Oberstufe fehlt mitunter der Freiraum zum forschenden Lernen und tieferen Nachdenken, weil der Unterricht auf die Prüfungsformate ausgerichtet ist. Wir brauchen eine Renaissance des Leistungsprinzips. Dabei schadet es si cherlich nicht, wenn Schülerinnen und Schüler auch einmal Lernzumutungen erfahren; einem Dauertrend zum ‘Leichtverdaulichen‘ sollten wir wider stehen, es sei denn, wir strebten die wirtschaftliche Armut und Bedeu tungslosigkeit Deutschlands als Indus trienation an. Reinhard Schwab, Landesvorsitzender des hphv
W ieder zeigt sich ein beein druckendes Bild: Abituri entinnen und Abiturienten allerorten – ihr Anteil überspringt mittlerweile, je nach Bundesland, 50 Prozent eines Jahrgangs. Auch in Hessen freut man sich über die Resul tate im Landesabitur: Die diesjährige Durchschnittsnote liegt bei 2,25 (vor fünf Jahren 2,39). 4,8 Prozent erreich ten sogar ein 1,0-Traumabitur (vor fünf Jahren waren es noch 2,1 Prozent). Das Phänomen ist nicht neu: Abiturientin nen und Abiturienten mit immer bes seren Noten verlassen seit Jahren die Schulen, so dass an den Hochschulen immer mehr junge Menschen mit Ab schlüssen aus dem oberen Notenbe reich ankommen. Den Rückschluss zu ziehen, dass das allgemeine Bildungs niveau gestiegen sei, wäre aber außer ordentlich tollkühn. Vor Augenwische rei sei gewarnt: Der Trend zu immer besseren Noten hat auch seine Schat tenseite. Was hier glänzt, ist nicht im mer Gold. Die Inflationierung guter Noten – letztendlich auch der Zugän ge zu einem Studium – lässt sich seit den 2000er-Jahren immer deutlich nachweisen und täuscht darüber hin weg, dass die Studierfähigkeit der jun gen Menschen seit Jahren leidet. Kritische Rückmeldungen aus den Universitäten, die Voraussetzungen der Studienanfänger seien schlechter als früher, sind schon längst ein Dauer thema. Vor wenigen Jahren äußerte sich Prof. Dr. Peter-André Alt als Präsi dent der Hochschulrektorenkonferenz: »Wir leben in einer Fiktion, dass mit dem Abitur die Voraussetzungen für das Studium erfüllt sind.« Ingenieur wissenschaften gehören zu den Fä chern mit den höchsten Abbruchquo ten; schlechte Nachrichten gibt es auch aus den Naturwissenschaften und der Volks- und Betriebswirtschaftslehre. Selbst beim Textverständnis und den Schreibfähigkeiten hapert es. Der Wi derspruch zwischen dem seit Jahren boomenden Gymnasialabschluss – mit guten bis sehr guten Noten – einerseits und abnehmender Studierfähigkeit an
dererseits erfordert eine schulpolitische Reaktion. Qualität und Zukunftsfähigkeit des Abiturs müssen gesichert werden. Was ist zu tun? Und wie sieht es in den Schulen aus? Prof. Dr. Olaf Köller vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissen schaften und Mathematik an der Uni versität Kiel merkte bereits vor gerau mer Zeit an, dass das Gymnasium an seine Wachstumsgrenze gelangt sei. Muss und kann jedes Kind zur allge meinen Hochschulreife geführt wer den? Hier ist ein klares Nein ange bracht. Voraussetzung für die gymna siale Laufbahn sollten eine entspre chende Leistungsfähigkeit und Leis tungsbereitschaft der Kinder sein, wobei die Noten in Deutsch und Mathe matik eine hohe Aussagekraft besitzen. Eine zu große Heterogenität in den Klassen verhindert, dass notwendige Leistungsansprüche konsequent um gesetzt werden. Grundsätzlich sollten Schulab schlüsse jenseits des Abiturs gesell schaftlich stärker wertgeschätzt wer den. Die Hochschulreife ist nicht unbe dingt der Königsweg zu einem guten Leben. Mitunter leben Abiturientinnen und Abiturienten mit der Illusion, besonders qualifiziert zu sein; das böse Erwachen folgt nicht selten an der Universität oder im Berufsleben. Arbeitgeber las sen sich immer weniger von Noten und dafür mehr von der Persönlichkeit der jungen Menschen und deren tatsäch lichem Können beeindrucken. Bildungspolitische Innovationen ha ben eine Schieflage provoziert: Indivi duelles Lernen mit entsprechend indivi dueller Förderung steht seit Jahren im Vordergrund unterrichtlicher Arbeit, ei ne verbindliche allgemeine Leistungs orientierung ist in den Hintergrund ge treten, ‘überindividuelle‘ Orientierun gen verlieren an Bedeutung. Manche Schüler werden in der Sekundarstufe über die ‘Leistungshürden‘ förmlich ge
Klartext
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SCHULE
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