Bildung aktuell 6/2022

Schule & Beruf

Mythen imUkraine-Krieg Geschichte ist keine reine Rekonstruktion der Vergangenheit, die als Planspiel zur optimalen Gestal tung der Zukunft geschrieben wird. Sie bleibt ein Erklärungsmodell der Vergangenheit aus der Per spektive ihrer Entstehungszeit. Mythen sind dabei keine Geschichtsschreibung, sondern gemeinsa me Erzählungen, Narrative, losgelöst von realen historischen Ereignissen. Sie dienen der Selbstver gewisserung und Selbstbestärkung einer Gemeinschaft. Kein Angreifer in einemKrieg würde zugeben, dass er aus Habgier, Machtbesessenheit oder Angst handelt. Das würde abstoßend wirken auf Beobachter und auf das eigene Volk. Wer andere überfällt, braucht eine Erzählung, einenMythos, der den Krieg rechtfertigt, ihn als unvermeidlich erklärt, eine Geschichte, auf die sich die Gruppe der Angreifer verständigen kann, egal ob sie stimmt oder frei er funden ist. Ähnliches gilt für die Angegriffenen. Sie brauchen ebenfalls einen verbindendenMythos, eine gemeinsame Erzählung für den Zusammenhalt, um sich auch mental wehren zu können. Umdieses Thema geht es in der Auftaktfolge zur zweiten Staffel des historycast , demPodcast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands. In den zwölf neuen Folgen werden Historikerinnen und Historiker zu neuen Forschungsergebnissen, Büchern oder Analysen zumVer schwörungsdenken befragt. Parallel hat der Verband aufwändig Unterrichtsmaterialien zu jeder Folge erstellt. Der Autor dieses Beitrags interviewte zumUkraine-Krieg die polnische Historikerin Dr. Agnieszka Pufelska. Sie lehrt an der Universität PotsdamAllgemeine Geschichte der Frühen Neuzeit. Hier ein Ausschnitt aus demPodcast.

ten zu etablieren, umauch diese Gruppen zumobilisieren. WelcheMythen beschwört und be setzt der russische Präsident Putin, umden Angriff auf die Ukraine zu begründen? Der ersteMythos ist der missionari scheMythos, also dass die Russen ei ne heilsgeschichtliche Funktion in der Welt haben, und siemüssen dieWelt erlösen, vor allemdie christlicheWelt. Dazu kommt noch das Selbstver

ständnis in Russland oder Moskau als das dritte Rom. Nach demMotto: Das erste Rom ist untergegangen, das zweite Rom, das heißt Konstanti nopel, ist auch untergegangen, und Moskau ist sozusagen das letzte Rom, die letzte Bastion des Christentums. WelcheWerte vertritt denn dieser russische Mythos dann? Familie, Gott, Vaterland, Nation, Gottesliebe, Einheit und Kollektivität. Wogegen sich dieser russischeMy

von Heiner Wember

Was ist überhaupt einMythos? Mythos ist meiner Ansicht nach ein Kraftspender, der die Geschichte strukturiert, um sie dann für die Gegenwart zu nutzen. Kraftspender klingt so positiv. Ja, wenn Sie so wollen, ist es auch ei ne Erzählung, eine kraftspendende Erzählung, dieman braucht, umKol lektive zu gründen, umGemeinschaf

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